„Mein Kind kommt nie in ein Heim!“
von Katharina Mager
Fürchte Dich nicht
vor einem großen Schritt,
wenn dieser nötig sein sollte.
Eine Schlucht kannst
Du auch nicht
mit zwei kleinen Schritten
überwinden.
David L. George
Das ist ein Satz, der sich aus alten Zeiten bis in unsere Gegenwart in manchen Köpfen festgesetzt hat und nie wirklich hinterfragt wurde. Er steht einfach so da wie ein Zementblock. Obwohl sich inzwischen die Welt sehr verändert hat.
Die ersten Schritte der Ablösung müssen oft schon früh gegangen werden. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass junge Frauen zu Hause bleiben können, um ihr behindertes Kind zu versorgen. Die langen Ferien während der Schulzeit bringen viele Familien an die Grenzen ihres Organisationstalents und damit ihrer Belastbarkeit.
Da freut man sich doch auf das Ende der Schulzeit – oder?
Und dann? Wo wird meine Tochter, mein Sohn arbeiten, wo und mit wem die Freizeit verbringen? Wie ist sie/er finanziell und rechtlich abgesichert? Fragen über Fragen, die geregelt werden müssen. Fragen, auf die es Antworten gibt. Antworten, die zu einem Erwachsenenleben gehören, das auch für Menschen mit Behinderung mit dem 18. Geburtstag beginnt.
Doch bleiben Menschen mit Behinderung und besonders mit geistiger Behinderung für Eltern oft die kleinen hilfsbedürftigen Kinder. Man erlaubt ihnen ihre eigene Lebensgestaltung nicht. „Ich bin die Einzige, die Hans versteht. Dem geht es nur bei mir gut“, sagte die achtzigjährige Mutter über ihren sechzigjährigen Sohn. Er durfte nie zur Arbeit gehen. Es gab keinen Kontakt zu Familienangehörigen. Für die Zukunft war nicht gesorgt, als sie nach der Einlieferung ins Krankenhaus durch den Notarzt das Wochenende nicht überlebte und ihr Sohn – der Not gehorchend und unzureichend bekleidet mit eingeliefert – unbekannt im Krankenhaus versorgt werden musste. Heute hat einen Platz in einer Wohneinrichtung, den ihm eine gesetzliche Betreuerin besorgt hat, und fühlt sich in seinem neuen Zuhause außerordentlich wohl.
Es ist einer der vielen schwierigen, oft katastrophalen Vorfälle, die uns bei der Lebenshilfe begegnen und die vermeidbar gewesen wären. Angebote und Ratschläge werden auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben oder ganz ignoriert, weil man als Vater oder Mutter an das ewige Leben glaubt oder einem das Vertrauen und die Zuversicht fehlen, dass auch andere Verantwortung für den Angehörigen übernehmen können. „Solange ich kann, bleibt mein Kind zu Hause und kommt nicht in ein Heim.“ Dabei können viele schon längst nicht mehr, merken es nur nicht. Sie haben oft nicht einmal mehr die Kraft und die Kenntnis, notwendig Vorsorge zu treffen. Das geht leichter in jungen Jahren. Dann kann das Selbständigwerden viel besser begleitet werden.
Die jungen Leute, behindert oder nicht, wollen nun mal mit jungen Leuten zusammen sein. Ein Diskobesuch mit den Eltern ist nicht so prickelnd. Bei der Arbeit möchte man sich auch mit seinen Altersgenossen messen und Kontakte knüpfen. Wohnen, immer nur zu Hause, das ist für viele zu langweilig. Die vielen Möglichkeiten, die es heute gibt, bieten weit mehr, als das Wort Heim in seiner alten Begrifflichkeit hergibt.
Katharina Mager, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern mit Mehrfachbehinderung, ist seit über 35 Jahren vorwiegend ehrenamtlich bei der Lebenshilfe Köln tätig. Sie berät Ratsuchende. Ihre Arbeit zeichnet sich durch ihre eigene Lebensgeschichte aus, aber auch durch ihre fundierten psychologischen, heilpädagogischen und sozialrechtlichen Kenntnisse.
Dieser Artikel ist im Kontakte-Magazin 2011 der Lebenshilfe Köln erschienen. Das Magazin kann unter www.lebenshilfekoeln.de heruntergeladen werden.