Ausbildung Schritt für Schritt

Die richtige Mischung | Foto: Bömer

Bielefelder Lindenhof ist ein Ausbildungshotel für Menschen mit Behinderung

Bielefeld. Epilepsie – die Krankheit hinderte Erdogan Göcmen lange an seinem Traumjob. Koch wollte er seit dem 14. Lebensjahr werden. Aber in seiner Heimat Solingen bekam er keinen Ausbildungsplatz – wegen der Beeinträchtigung.

Seine Chance war der Bielefelder Lindenhof. Dort werden knapp 30 junge Menschen mit Behinderung ausgebildet. Es ist eines von 40 sogenannten Embrace-Hotels in Europa. Die Kette ist führend mit ihrem Bemühen um Inklusion.

"Embrace" ist der englische Begriff für "umarmen". Der gleichnamige Hotelverbund beschäftigt Menschen mit Behinderung. Der Lindenhof in Bethel hat dabei Sonderstatus: Er bildet beeinträchtigte junge Leute aus. Hotelleiter Jürgen Simon nennt seinen Betrieb "Intensivstation": "Bei uns kriegen die Auszubildenden das Komplettpaket." Neben der Stelle werden sie medizinisch versorgt, erhalten Freizeitangebote und Unterbringung. "Die Auszubildenen hätten auf dem normalen Arbeitsmarkt keine Chance", sagt er.

In 16 Jahren 140 Menschen ausgebildet

So wie Erdogan Göcmen. Der junge Mann litt an Absencen, schlagartig war er für einige Sekunden einfach abwesend. Trotz Praktika kein Ausbildungsplatz. Über die Arbeitsagentur erhielt er dann das Angebot, in Bethel zunächst als Teilkoch ausgebildet zu werden. Er nutzte die Chance, kam nach Ostwestfalen und wurde zunächst von der Ärztin neu eingestellt.

Mittlerweile – nach dem Teilkoch ist er nun am Ende seiner Beikoch-Ausbildung – gehören Gemüse schnippeln, Soßen und Dressings machen und Salat waschen zu seinen Aufgaben. Hat er Büfett-Dienst, erklärt er den Hotelgästen, was genau im Essen ist. "Seit drei Jahren ohne Probleme mit epileptischen Aussetzern."

140 junge Menschen hat der Lindenhof in den vergangenen 16 Jahren ausgebildet. Als Teil- oder Hilfskoch, Helfer im Gastgewerbe oder als Fachkräfte für Hotel oder Restaurant. Den Anspruch des Betriebs formuliert der Leiter der Berufsausbildung Gastronomie und Hauswirtschaft Raoul Haus so: "Gezielt fördern".

Der Theorieanteil in allen Ausbildungen ist niedrig. Es gebe, so Jürgen Simon, viel Anleitung für die jungen Beschäftigen und alles gehe "Schritt für Schritt". "Dann", so der Hotelleiter, "kann jeder etwas leisten."

„Gäste kommen wegen der Herzlichkeit“

Das Hotel ist wie die meisten anderen Embrace-Hotels mit etwa 60 Prozent Auslastung gut besucht. "Gäste kommen wegen der Herzlichkeit zu uns, nicht weil Menschen mit Behinderung hier arbeiten", sagt Simon.

Bei der Jahrestagung der Embrace-Hotels, die kürzlich im niedersächsischen Wienhausen stattfand, fasste der Verbundsvorsitzende Martin Bünk zusammen: "Viele unserer Gäste wissen nicht, dass bei uns auch Behinderte arbeiten. Sie sind manchmal erstaunt, von einer Servicekraft mit Down-Syndrom bedient zu werden und nicht selten ergeben sich so direkte Kontakte." In den Hotels arbeiten europaweit 1.100 Menschen, mehr als die Hälfte von ihnen mit Behinderung.

Probleme hatte Erdogan Göcmen bislang nur einmal: "Als ich ein à-la-carte-Menü bestückt habe, bin ich mächtig ins Schwitzen gekommen." Aber Hotelleiter Jürgen Simon ist sich sicher: "Das würde sicherlich auch jedem Vier-Sternekoch passieren."

Info:

Der Embrace-Hotel-Verbund
www.embrace-hotels.de

  • "Normal, verschieden zu sein" hat sich der Verbund der Embrace-Hotels auf die Fahnen geschrieben.
  • Das heißt: Menschen mit Behinderung – über die Hälfte der Beschäftigten haben eine Beeinträchtigung – arbeiten in den Hotels gemeinsam mit Menschen ohne Beeinträchtigung.
  • 1993 eröffnete das erste Embrace-Hotel Deutschlands in Hamburg. Vor 16 Jahre begann der "Lindenhof" in Bethel.


Julia Bömer und Joachm Göres 
Quelle: Neue Westfälische Zeitung 03.06.2013