Epilepsie-Behandlung in Nepal

Erfahrungen eines Neuropädiaters

Als ich im Jahre 2004 nach fast 25-jähriger Tätigkeit als Leitender Arzt in den Ruhestand trat, ahnte ich noch nicht, dass ich bereits acht Wochen später im Flieger nach Kathmandu sitzen würde mit dem Ziel, als Volontier eine REHA-Einrichtung für neurologisch kranke und entwicklungsgestörte Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Schon Jahre zuvor hatte ich mit dem Gedanken gespielt, nach Abschluss der beruflichen Tätigkeit in einem Land der Dritten Welt zu arbeiten, um dort die über viele Jahre gesammelten beruflichen Erfahrungen einzubringen. Der Kontakt nach Nepal kam mehr zufällig zustande. Bereits Anfang der 90er Jahre hatten meine Frau und ich das Land als Touristen kennen- und lieben gelernt und waren sofort von der landschaftlichen Schönheit und der Freundlichkeit der Bevölkerung fasziniert.

Wie überall in der Welt ist dort Epilepsie nach den Entwicklungsstörungen die häufigste neurologische Erkrankung im Kindes- und Jugendlichenalter. Im Vergleich zu Ländern der westlichen Welt dürfte die Zahl der Erkrankten in Nepal etwas höher liegen, exakte Zahlen existieren nicht.

Die medizinische Versorgung epilepsiekranker Kinder in Nepal  ist geprägt und leider überwiegend negativ beeinflusst durch eine Vielzahl von Faktoren: In erster Linie sind es die im Vergleich zu Ländern der westlichen Welt extrem schlechten ökonomischen Bedingungen. Von den 30 Mio. Einwohnern Nepals leben fast 40 % unterhalb der Armutsgrenze; das Durchschnittseinkommen liegt unter 18 USD/Monat. Hinzu kommt, dass es keine Krankheitsvorsorge gibt. Des Weiteren ist das große Gefälle in der medizinischen Versorgung von Stadt- und Landbevölkerung zu nennen. Dabei stellen auch die geografischen Bedingungen eine erhebliche Erschwernis vor allem der ländlichen Bevölkerung in der allgemeinen medizinischen Versorgung dar. In Nepal ist es die Tatsache, dass 60 % des Landes Berge sind, davon 40 % über 3.000 m, d. h., dass viele Ortschaften nur schwer, manchmal nur auf langen Wegen, zu Fuß erreichbar sind.

In Nepal erfolgt die Behandlung auf dem Land überwiegend in so genannten „Health Posts“, die von einem „Health Assistant“ geleitet werden, der eine Ausbildung hat, die mit der eines Pflegers bei uns vergleichbar ist. Ein Arzt steht nicht regelmäßig zur Verfügung. Das bedeutet, dass Patienten zumindest für die Erstdiagnostik fast immer in größere Städte, meist in die Hauptstadt, verwiesen werden, was nicht selten mit tagelangen Reisen verbunden ist. Das wiederum hat zur Folge, dass notwendige Kontrollen zur Überprüfung des Behandlungseffekts vielfach nicht erfolgen, weil sie dem Patienten überlassen bleiben. So wird ein anfangs verordnetes Medikament nicht selten in gleichbleibender Dosis über lange Zeit, manchmal über Jahre verabreicht, unabhängig davon, ob es einen Effekt hat oder nicht.

Eine ausreichende ärztliche Versorgung ist in der Regel nur in den Krankenhäusern größerer Städte gewährleistet. Für die epileptologische Versorgung von Kindern und Jugendlichen von entscheidender Bedeutung ist das sehr begrenzte ärztliche Fachwissen in diesem Bereich. Meist sind es Psychiater, die - wenn überhaupt - vorwiegend Erfahrungen mit erwachsenen Epilepsie-Patienten haben. Ihre Tätigkeit beschränkt sich in der Regel darauf, die Diagnose zu stellen und Medikamente zu verschreiben, und das meist sehr reichlich. Das, was wir unter „Beratung“ verstehen, nämlich einen Patienten über seine Erkrankung aufzuklären, welche Behandlungsmöglichkeiten bestehen, welche Prognose die Krankheit hat, u. a., gibt es einfach nicht. Ich habe praktisch nie erlebt, dass Eltern eines epilepsiekranken Kindes über dessen Erkrankung Bescheid wussten und Auskunft darüber geben konnten.

Hinzu kommt, dass das Interesse des Arztes am Patienten nur begrenzt ist. Dies hat einmal damit zu tun, dass er in Allgemein- bzw. Regierungs-Krankenhäusern sehr schlecht bezahlt wird und daher versucht, seine Arbeit dort zeitlich möglichst zu begrenzen und sein Geld in „Private Hospitals“ zu verdienen. Zum anderen beruht es auf einer anderen Mentalität: Die Anteilnahme am Schicksal des Patienten, die Empathie, wie wir sie dem Patienten entgegenbringen, ist eher begrenzt. Die Ursachen hierfür sind vor allem kulturell begründet. Auffällig ist z. B. die geringe Achtung gegenüber dem sozial Schwächeren. Das hat sicher ganz wesentlich auch mit dem Kastenwesen zu tun.

Dieser Mangel an Beratung und Aufklärung führt dazu, dass die Eltern keine oder völlig falsche Vorstellungen über die Ursachen der Epilepsie haben. Vor allem in der ländlichen Bevölkerung wird Epilepsie häufig als nicht behandelbare Krankheit angesehen, sondern als von höheren Mächten auferlegtes Schicksal. Das hat zur Folge, dass die Eltern eines epilepsiekranken Kindes oder auch Betroffene selbst keinen Arzt, sondern einen „Heiler“ oder Schamanen aufsuchen. Ein Schamane ist ein mit ungewöhnlichen seelischen Kräften ausgestatteter Mann, der sich durch Tanz, Musik u. a. in Ekstase versetzt, in der er fähig sein soll, Unheil abzuwenden und z. B. Kranke zu heilen. Ich habe viele Eltern getroffen, die diesen Weg beschritten und so ihrem Kind über viele Jahre eine medikamentöse Behandlung vorenthalten haben.

Ein großes Problem ist die Tatsache, dass Antiepileptika nur in begrenztem Maße zur Verfügung stehen. Die vorwiegend verordneten Medikamente sind Carbamazepin, Phenobarbital (Luminal®), Sodiumvalproat (auf dem Lande nicht immer verfügbar) sowie Phenytoin und Benzodiazepine. Leider werden diese Medikamente sehr häufig zu niedrig, d. h., nicht nach Körpergewicht dosiert - Säuglinge und ältere Kinder erhalten meist über Jahre die gleiche Dosierung. Oft erfolgt von Beginn an die Kombination mit einem Benzodiazepin, so dass bei Anfallsfreiheit nicht zu erkennen ist, welches der Medikamente zu dem positiven Effekt beigetragen hat. Diese Kombination wird häufig jahrelang in unveränderter Dosierung verabreicht. Wird ein Kind nicht anfallsfrei, erfolgt vielfach keine Dosiserhöhung, sondern es wird ein weiteres Medikament hinzugefügt. Eine Reduktion oder gar das Absetzen nicht ausreichend wirksamer Medikamente wird in vielen Fällen nicht vorgenommen.

Ein weiteres gravierendes Problem ist die Tatsache, dass ein großer Teil der Bevölkerung die Medikamente - wenn sie denn erhältlich sind - nicht bezahlen kann. Preiswerte Medikamente wie Phenobarbital und Carbamazepin werden in den staatlichen Krankenhäusern auf entsprechende Verordnung meist kostenlos zur Verfügung gestellt. So erfreulich es ist, dass wenig begüterte Patienten bzw. Patienteneltern die benötigten Medikamente kostenlos erhalten können, so sind auch nicht unerhebliche Probleme damit verbunden: In der Regel werden die Tabletten vom Apotheker abgezählt für einen sehr begrenzten Zeitraum abgegeben, selten mehr als für vier Wochen. Versäumt der Patient es, sich rechtzeitig die nächste Verordnung zu besorgen oder besteht gerade mal ein Engpass in der Versorgung mit dem benötigten Medikament - und das ist leider immer wieder der Fall - ist dies mit einem plötzlichen Abbruch der medikamentösen Behandlung verbunden mit den bekannten negativen Folgen.

Im Jahr 2009 hatte ich das Glück, dass mir die Stiftung „Ein Herz für Kinder“ auf Antrag für die Dauer von drei Jahren (inzwischen um drei Jahre verlängert) jeweils € 15.000,-- zur Verfügung gestellt hat, womit im Reha-Zentrum in Kathmandu ein „full-time“ Arzt eingestellt werden konnte, der bis dahin nicht zur Verfügung stand. Mit ihm zusammen habe ich in den letzten Jahren versucht, Strukturen zur Verbesserung der Versorgung epilepsiekranker Kinder und Jugendlicher vor allem in den ländlichen Regionen aufzubauen.

Hierzu muss man wissen, dass in zahlreichen Distrikten des Landes schon seit langem so genannte „Homevisitoren“ tätig sind, die im Reha-Zentrum in Kathmandu in einem Kurzlehrgang angeleitet worden und dort angestellt sind, um sich vor Ort um behinderte Kinder zu kümmern. Zu den Aufgaben des Arztes gehört es, die von den „Homevisitoren“ betreuten Kinder im Rahmen mehr oder weniger regelmäßige Distriktbesuche zu untersuchen und die „Homevisitoren“ zu beraten. Hat ein Kind eine Epilepsie, erstellt der Arzt einen Langzeit-Plan zur medikamentösen Behandlung. Die Medikamente werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Der „Homevisitor“ ist für die Beschaffung und stetige Bereitstellung verantwortlich, was eine erhebliche organisatorische Herausforderung darstellt, und überwacht deren regelmäßige Einnahme. Er berichtet telefonisch über den Effekt der Behandlung und den Verlauf der Epilepsie an den Arzt, der dann bei Bedarf Korrekturen der Therapie vornimmt. Ich selbst konnte den Kollegen bei zahlreichen Distriktbesuchen begleiten. Wenn man davon ausgeht, dass die Kinder mit Epilepsie bisher quasi unbehandelt waren, sind die bisherigen Erfahrungen sehr ermutigend.

Gunter Gross-Selbeck,
Düsseldorf


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Prof. Gunter Gross-Selbeck
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