Ein unerwarteter Tod

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Patienten und auch manche Ärzte wissen oft nicht um das Risiko eines plötzlichen, unerwarteten Epilepsietodes. Rund ein Viertel der Betroffenen sterben noch vor ihrem 56. Geburtstag.

 

Ursula Wrobel kann sich noch gut an den schweren Fieberkrampf erinnern, der ihren damals eineinhalb Jahre alten Sohn schüttelte – und auch an den Schmerz, als sie ihren Jungen deswegen in ein Krankenhaus bringen und dort lassen musste. Dass dieses Ereignis der Auftakt zu einer Krankheit sein würde, die Detlev Wrobel sein ganzes Erwachsenenleben lang begleiten und letztlich auch zu seinem Tod führen sollte, ahnte seine Mutter damals nicht.

 

Viele Jahre lang war Ruhe, nichts erinnerte mehr an die Erkrankung aus den frühen Kindertagen. Doch im Alter von 18 Jahren bekam Detlev Wrobel zum ersten Mal einen epileptischen Anfall. Ein typischer Verlauf, wie Felix Rosenow, Leiter des Epilepsie-Zentrums Frankfurt Rhein-Main am Universitätsklinikum Frankfurt, sagt. Nicht selten seien stundenlange Fieberkrämpfe Auslöser einer Epilepsie, die sich Jahre später, meist im Kindes- oder Jugendalter, mit dem ersten Anfall bemerkbar mache: „Durch das schwere Fieber können Regionen des Gehirns geschädigt werden. Im Schnitt dauert es danach zehn Jahre, bis sich eine Epilepsie ausprägt“, erläutert der Neurologe.

 

Aber auch bei Erwachsenen können Ersterkrankungen auftreten, dann eher als Folge eines Schädel-Hirn-Traumas, Schlaganfalls oder Tumors. Denn anders als oft angenommen ist die Epilepsie keine klassische vererbbare Krankheit. Eine genetische Disposition könne sie zwar begünstigen, müsse aber nicht zu einer Epilepsie führen und sei auch nicht zwingend Voraussetzung, erklärt Rosenow.

 

Ursache der Epilepsie ist eine Funktionsstörung des Gehirns, sie kann auf einen bestimmten Bereich beschränkt sein oder das gesamte Gehirn betreffen. Typisch ist das Auftreten von Anfällen – einem Vorgang, bei dem sich Gruppen von Nervenzellen gleichzeitig entladen und das Gehirn reizen. Manche Patienten werden plötzlich heimgesucht, bei anderen kündigen sich die Anfälle an, etwa mit Augenflimmern oder aufsteigender Übelkeit; auch Detlev Wrobel kennt solche „Auren“, erzählt seine Mutter.

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Doch alles in allem schien er seine Erkrankung mit Medikamenten gut im Griff zu haben. Antiepileptika haben zwar keine heilende Wirkung, können Anfälle aber verhindern. Jedoch sprechen nicht alle Patienten gleich gut darauf an, bei rund einem Drittel bewirken die Tabletten keine ausreichende Blockade.

 

Detlev Wrobel führte trotz seiner Erkrankung ein Leben fast ohne Einschränkungen; genau das sei stets sein Ziel gewesen, sagt seine Mutter. Er machte in Frankfurt Karriere bei einer Bank, arbeitete als Controller. Die mit der Epilepsie häufig einhergehende Vergesslichkeit glich er aus, indem er sich Dinge aufschrieb. Dass Detlev Wrobel viele Freunde hatte und beruflich erfolgreich war, sei für einen Epilepsiekranken keineswegs selbstverständlich, sagt Felix Rosenow: Oft würden die Patienten schon in der Schule ausgegrenzt – zum Teil auch von Lehrern –, könnten deshalb ihre Talente nicht entfalten und litten auch im Beruf unter Stigmatisierung. Depressionen und Ängste seien daher häufige Folgeerkrankungen.

 

Detlev Wrobel hatte solche Probleme nicht. Er unternahm gerne weite Reisen, nach Nepal oder Peru, war oft in den Bergen unterwegs. Doch dann stürzte er vor vier Jahren bei einer Tour an der Zugspitze vermutlich durch einen Anfall schwer, 150 Meter riss es ihn in die Tiefe. Ob dieser Unfall Folgen für seine Erkrankung hatte – für Mediziner ist es nicht abwegig, nachweisen lässt es sich nicht mehr. Am 3. Dezember 2015 starb Detlev Wrobel im Alter von nur 54 Jahren. Der Tod kam im Schlaf – seine Frau fand ihn morgens leblos im Bett.

 

Felix Rosenow und sein Kollege Adam Strzelczyk, Leitender Oberarzt am Epilepsiezentrum Frankfurt, gehen davon aus, dass Detlev Wrobel einem „Sudden Unexpected Death in Epilepsy Patients“ (SUDEP) erlegen ist. Darunter verstehen Fachleute einen plötzlichen, unerwarteten Epilepsietod, dem kein Trauma, kein Unfall oder anderer Auslöser vorangegangen ist.

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Schätzungen zufolge stirbt jährlich einer von 1.000 Patienten daran. Gleichwohl sei dieses Phänomen erst seit wenigen Jahren im Fokus der Forschung und nicht vollständig verstanden, sagt Strzelczyk – so wie die gesamte Erkrankung längst nicht umfassend erforscht ist, auch wenn sie bereits in der Antike beschrieben wurde.

 

Um die Forschung auf diesem Gebiet zu unterstützen, wollte Detlev Wrobel Geld aus seinem Vermögen spenden. Seine Mutter hat dem Epilepsiezentrum Frankfurt Rhein-Main des Universitätsklinikums deshalb nun 100 000 Euro für die wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung gestellt. In der Hoffnung auf weitere Unterstützung wurde auf Basis dieser Spende der „Detlev-Wrobel-Fonds für Epilepsieforschung“ gegründet.

 

Wrobel selbst hatte vor, sich an dem erst vor rund einem Jahr gegründeten Zentrum untersuchen zu lassen. Dazu kam es nicht mehr. Felix Rosenow geht davon aus, dass der 54-Jährige im Schlaf einen „großen Anfall“ erlitten hat, der zu einem plötzlichen Tod geführt hat. Dabei kommt es vermutlich zu Atemstörungen, einer Minderversorgung des Körpers mit Sauerstoff und einem verhängnisvollen „Zusammenspiel von Fehlfunktionen des Herzens der Lunge und des Gehirns“, erläutert Adam Strzelczyk.

 

Häufig lägen Patienten, die auf diese Weise im Schlaf sterben, zudem auf dem Bauch, mit dem Kopf im Kissen. Erschwerend käme hinzu, dass sie durch den Anfall nicht aufwachen – also nicht merken, wenn sie keine Luft mehr bekommen.

 

Gefährdet seien vor allem jene Menschen, die trotz Medikamenten immer noch regelmäßig unter großen Anfällen leiden, sagt Felix Rosenow. Eine aktuelle Studie aus Finnland verdeutlicht das Risiko: Seit 1964 hatten Wissenschaftler dort 245 Patienten beobachtet, alle waren zu Beginn jünger als 16 Jahre. Rund ein Viertel starb im Laufe der Zeit noch vor dem 56. Geburtstag – „30 % davon erlitten einen plötzlichen unerwarteten Tod“, sagt Adam Strzelczyk.

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Die Umstände waren stets sehr ähnlich: Der Tod kam meist während oder kurz nach einem Anfall, unbeobachtet, zuhause und im Bett.“ Oft hätten Zungenbiss, Einnässen oder ein durchwühltes Bett auf einen nächtlichen Anfall hingedeutet.

 

Trotz der relativen Häufigkeit eines plötzlichen Todes wissen Patienten oft nichts von dieser Gefahr, sagt Strzelczyk: „Neurologen klären eher selten über SUDEP auf.“ Wissenschaftler gehen davon aus, dass Ärzte die Gefahr häufig unterschätzen. Zuweilen informieren sie aber auch bewusst nicht – weil sie fürchten, einen Patienten zu beunruhigen, in der Aufklärung mehr Schaden als Nutzen sehen oder wissen, „dass sie nichts Gesichertes als Handlungskonsequenz empfehlen können“, erklärt Strzelczyk.

 

Befragungen von Patienten und Angehörigen indes ergaben, dass sie um dieses Risiko wissen möchten, und das möglichst frühzeitig – auch wenn noch unklar ist, wie sie einem plötzlichen Tod vorbeugen können. Wachsam sollten vor allem Patienten sein, die trotz regelmäßiger Medikamenteneinnahme unter mindestens einem großen Anfall im Monat leiden, sagt Felix Rosenow. Für sie wäre es sinnvoll, möglichst nicht in Bauchlage zu schlafen, auch ein kleines, hartes Kissen könne von Nutzen sein.

 

Ist bei Patienten die Fehlfunktion im Gehirn auf einen umschriebenen Ort beschränkt, so könne auch eine Operation in Erwägung gezogen werden, sagt Felix Rosenow. Bei diesem Eingriff werden die geschädigten Stellen entfernt. Damit ließen sich die Anfälle so gut wie immer lindern, bei rund der Hälfte der Patienten verschwänden sie vollständig. Die Hoffnungen der Wissenschaft ruhen zudem darauf, bereits bei den molekularen Ursachen der Epilepsie ansetzen zu können.

 

Die der Erkrankung zugrundeliegenden biochemischen Prozesse im Gehirn zu erforschen, das ist auch Ziel des von der Europäischen Union mit 11,5 Millionen Euro geförderten EpimiRNA Projekts. Wissenschaftler von 16 Forschungseinrichtungen aus Europa, den USA und Brasilien wollen dabei untersuchen, welche Rolle die Micro-RNA – eine kurze Variante der Nukleinsäure RNA – spielt. Das Ziel ist es, auf der Basis dieser Erkenntnisse neue Therapien entwickeln – und dann vielleicht doch eines Tages die Epilepsie heilen zu können.

 

Pamela Dörhöfer

 

Artikel aus der Frankfurter Rundschau

vom 25. Mai 2016

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags und der Autorin