Äußerst aufrichtig – Auffallend aufrecht

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Ein geistig behindertes Mädchen entwickelt eine Strategie zum Umgang mit den Anfällen ihres Vaters - mit bemerkenswerten Ergebnissen

Sarah (16) kommt seit zwei Jahren zu mir in Psychotherapie. Sie hat eine geistige Behinderung. Sie wirkte sehr in sich zusammengesunken, physisch durch eine massive Skoliose, innerlich durch geringe Selbstwahrnehmung und eine träge, schlaffe Grundhaltung. Sie trägt ein Stützkorsett und eine Wirbelsäulenoperation war geplant. Sie erhält auch Physiotherapie. Als kleineres Mädchen hatte sie selbst epileptische Anfälle, seit einigen Jahren ist sie anfallsfrei.

 

Im ersten Jahr arbeiteten wir an Sarahs Selbstwahrnehmung und Gefühlsdifferenzierung. Sie erarbeitete sich eine gewisse Willensstärkung und Wachheit, sich und ihrer Mitwelt gegenüber.

 

Im zweiten Therapiejahr erzählte sie für mich sehr überraschend von den epileptischen Anfällen ihres Vaters, die sie sehr ängstigten und die sie nicht einordnen konnte. Ich wusste von der Problematik nichts.

 

Nun machten wir uns gemeinsam sachlich kundig über Epilepsie, herzlichen Dank an Frau Fey vom e.b.e. epilepsie bundes-elternverband, die uns Material und persönliche Beratung zukommen ließ! Sarah setzte sich sehr intensiv mit der Thematik auseinander, ihre geistige Behinderung verlangte oftmalige inhaltliche Wiederholungen und einfache und eindrückliche Erklärungen.

 

In einem zweiten Schritt suchte Sarah für sich einen passenden Weg, mit den Anfällen des Vaters umzugehen. Sie konnte für sich feststellen, dass der ihr tragbarste Weg ist, den Anfallsort zu verlassen und Familienangehörige telefonisch zu erreichen, die ihr dann während der Zeit des Anfalls beistehen können, bis ihr Vater erwacht. Dieses Procedere wurde innerhalb der Familie dann festgesetzt und die notwendigen Voraussetzungen geschaffen (Sarah trägt ein Handy mit eingespeicherten Nummern immer bei sich :-)).

 

Nun schien für mich das Thema genügend bearbeitet und ich wollte andere wichtige Themen in der Therapie behandeln. Sarah aber hatte den Plan, aus ihrem erworbenen Wissen und ihrer Entwicklung damit ein Buch für andere Kinder zu schreiben, damit auch diese weniger Angst im Erleben von Anfällen haben müssten.

 

Dazu ist zu sagen, dass Sarah in einer Einrichtung zur Schule und Tagesstätte geht, in der viele Kinder und Jugendliche epileptische Anfälle haben; die meisten SchülerInnen sind darüber nicht aufgeklärt und erleben die Anfälle ihrer KommilitonInnen erschrocken.

 

Sarah kann kaum schreiben, also diktierte sie mir ihren Text. Ich schrieb ihn ohne Veränderungen nieder, fragte nur manchmal nach, wenn z. B. ein Verb fehlte. Danach malte sie meine geschriebenen Buchstaben ab. Somit gibt es eine von ihr selbst geschriebene Version.

 

Ich finde den Text äußerst beeindruckend, manches war mir selbst neu, Sarah thematisierte z. B. ihre Wut auf die PassantInnen erst beim Schreiben.

 

Sarah hat sich mittlerweile so „aufgerichtet“, dass ihre Operation abgesagt werden konnte.

 

Ich bin sehr glücklich über Sarahs beeindruckende Entwicklung und das Geschenk der Zusammenarbeit mit ihr!

 

Dr. Andrea Mucha,

mucha(at)schloss-blumenthal.de

Was ist Epilepsie?

 

Es ist wie ein Gewitter im Kopf.

 

Mein Papa hat auch Epilepsie. Manchmal fällt er schnell um. Dann muss ich ihm aus dem Weg gehen und ihn in Ruhe lassen. Dann habe ich Angst und ich weiß nicht, was ich machen soll. Dann rufe ich den Krankenwagen an.

 

Ich mag mit meinem Papa nirgends alleine hingehen, weil ich nicht mag, dass er in einem Geschäft einen Anfall hat. Ich bekomme dann Panik. Ich werde auch wütend, weil die Leute nicht helfen und einfach vorbeigehen. Die denken sich, der Papa, der kriegt das schon alleine hin. Aber er kann nicht alleine aufstehen. Ich schreie „Hilfe“, aber die Leute gehen vorbei. Einmal hat ein Mann geholfen. Dann gehe ich schnell raus. Dann kommt der Rettungswagen. Die stellen mir doofe Fragen. Dann wacht mein Papa wieder auf. Meine Mama holt mich dann ab.

 

Wenn jemand einen Anfall hat, kann man ihm helfen. Man kann ihn im Gesicht anpusten, dass er weiter atmet. Man kann ihm ein Kissen unter den Kopf legen. Man kann alles wegräumen, an dem er sich anschlagen kann.

 

Wenn mein Papa einen Anfall hat, rufe ich meine Mama an. Dann reden wir ein bisschen, bis der Anfall vorbei ist. Dann habe ich weniger Angst.

 

Ich habe dieses Buch geschrieben, dass andere Kinder solche Anfälle besser verstehen. Und weniger Angst haben.

 

Sarah, 16 Jahre