Medikamentöse Therapie bei geistiger Behinderung

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Einleitung

Bei Menschen mit geistiger Behinderung (MmB) wird im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung (0,7 %) bis zu 40-mal häufiger eine Epilepsie diagnostiziert (26 %). Bei einzelnen typischen Erkrankungen (Syndromen) ist die Häufigkeit noch höher (siehe Tabelle 1).

 

Gemessen an der Bedeutung, die die Epilepsie demnach in dieser Patientengruppe hat, existieren wenige hochrangige Publikationen über die medikamentöse Behandlung von Epilepsie bei geistiger Behinderung. Die meisten Zulassungen der Epilepsiemedikamente erfolgten demnach ohne Erfahrungen bei MmB.

 

Grundsätzliches zur Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung (MmB)

Zumeist sind Epilepsien bei MmB schwieriger zu therapieren als bei anderen Epilepsie-Patienten. Tatsächlich liegen hier die Erfolgsraten einer Pharmakotherapie deutlich niedriger. Während bei Epilepsie-Patienten allgemein eine Anfallsfreiheit bei etwa 63 % erreicht werden kann, ist bei MmB nur von etwa 25 % Anfallsfreien auszugehen. Dabei gibt es Unterschiede je nach dem Grad der Intelligenzminderung (IM) – von 22 % Anfallsfreien bei schwerster IM bis zu 44 % bei Lernbehinderung. Oft werden MmB mit einer Kombinationstherapie behandelt, was Ausdruck der eher schwer behandelbaren Epilepsie ist.

 

Bei MmB gibt es seltene Erkrankungen (= Syndrome), die Besonderheiten aufweisen. Die genaue Kenntnis des Epilepsiesyndroms ist für den Therapieerfolg und die Patientensicherheit wichtig. Beim Dravet-Syndrom (schwere myoklonische Epilepsie der Kindheit) liegt meist eine Mutation des SCN1A-Gens vor, das eine Untereinheit eines Natriumkanals im Gehirn kodiert.

 

Während Natriumkanalblocker wie z. B. Carbamazepin, Lamotrigin oder Oxcarbazepin die Anfallssituation meist verschlechtern, ist die Substanz Valproinsäure Mittel der Wahl beim Dravet-Syndrom. Valproinsäure kann andererseits bei Erkrankungen mit Beteiligung des Zellstoffwechsels (Mitochondriopathie) zu einem Leberversagen führen.

 

Oberstes Ziel der antikonvulsiven medikamentösen Therapie ist prinzipiell die Anfallsfreiheit. Häufig ist es aber aufgrund der therapieschwierigen Epilepsie notwendig, andere Schwerpunkte in der Behandlung zu definieren. Hauptziele können dann z. B. eine Verminderung der Anfallsfrequenz, der Anfallsintensität oder der Anfallsdauer sein. Aber auch das Verhindern von Verletzungen durch Sturzanfälle oder eine Reduktion bzw. das Vermeiden von Nebenwirkungen (wie Sedierung oder Verhaltensstörungen) können in den Vordergrund rücken. Hier sind auch die Beobachtungen durch die Betreuer in der Einrichtung oder in der Familie wichtig. Hinter Antriebs-losigkeit, Müdigkeit, Appetitlosigkeit, vermehrtem Erbrechen oder aggressivem Verhalten können sich typische Nebenwirkungen von Antiepileptika verbergen. Gegebenenfalls führt eine Vereinfachung einer Kombinationstherapie zu einer dramatischen Verbesserung des Allgemeinzustandes. Eine Möglichkeit wäre z. B. das Absetzen eines nicht wirksamen Medikamentes oder die Dosisreduktion eines überdosierten Antiepileptikums.

Tabelle 1: Beispiele für das Epilepsierisiko verschiedener Erkrankungen bei Mehrfachbehinderung

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Substanzen

Bezüglich der medikamentösen Therapie gelten die allgemeinen Behandlungsgrundsätze nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (Gabe eines Mittels der ersten Wahl, bei Nichtansprechen Gabe eines weiteren Medikamentes der ersten Wahl im Austausch, bei Nichtansprechen Übergang auf Kombination zweier Substanzen usw.). Im Prinzip sind alle gängigen Substanzen bei MmB einsetzbar.


Tabelle 2 illustriert die Besonderheiten ausgewählter Substanzen. Einzelne Medikamente sind bei MmB, die schon durch herausforderndes Verhalten auffielen, mit einem höheren Risiko für Verhaltensstörungen verbunden, hierzu gehören neben anderen z. B. Perampanel oder Levetiracetam oder auch z. T. Brivaracetam. Da dies jedoch gut wirksame Medikamente sind, sollte nicht von vorneherein auf sie verzichtet werden. Es muss nur genau auf die Verträglichkeit geachtet werden. Ein genaues Beobachten der MmB hinsichtlich typischer Unverträglichkeiten betrifft natürlich auch das Erkennen von Hautausschlägen oder typischen zentralnervösen Nebenwirkungen wie Gangunsicherheit, vermehrtes Zittern oder Müdigkeit.

Tabelle 2: Charakteristika ausgewählter Epilepsiemedikamente

Ein Vorteil der neueren Substanzen wie Lamotrigin, Lacosamid oder Levetiracetam kann die bessere Verträglichkeit bezüglich kognitiver Funktionen (Denken, Konzentration, Sprache) und Wachheit sein. Hier schneiden ältere Substanzen wie Phenobarbital, Phenytoin oder Carbamazepin oft schlechter ab. Dazu kommt, dass die zuletzt genannten Medikamente oft mit vermehrten Wechselwirkungen verbunden sein können und damit andere nicht mehr so gut wirken.

 

Neben den breit eingesetzten Substanzen gibt es sogenannte Orphan drugs. Dies sind Medikamente, die zur Behandlung seltener Erkrankungen („orphan diseases“, Häufigkeit < 5/10.000) zugelassen sind. Viele MmB sind hier betroffen, hier eine kurze Übersicht der Syndrome und der dafür verfügbaren Substanzen:

 

•  Tuberöse Sklerose: Everolimus

•  Lennox-Gastaut-Syndrom: Cannabidiol, Felbamat, Rufinamid

•  Dravet-Syndrom: Cannabidiol, Fenfluramin, Stiripentol

 

Zusammenfassung

Die medikamentöse Therapie bei MmB unterscheidet sich im Prinzip nicht grundsätzlich von der anderer Epilepsie-Patienten. Drei wichtige Punkte sind aber zu beachten:

 

  • Der Therapieerfolg im Sinne einer kompletten Anfallskontrolle ist nicht selten ein unerreichbares Ziel. In einem solchen Fall sollten die Therapieziele (z. B. weniger Sturzanfälle oder weniger tonisch-klonische Anfälle) angepasst werden.
  • Die Empfänglichkeit für spezifische Nebenwirkungen, insbesondere Verhaltensauffälligkeiten, kann bei MmB größer sein.
  • Gerade dann, wenn Anfallsfreiheit nicht erreicht werden kann, ist die Verträglichkeit der Medikation besonders wichtig.

 

Frank Kerling

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Kontakt:

Dr. med. Frank Kerling

Leitender Arzt Medizinisches Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB)

Klinik für Neurologie

Krankenhaus Rummelsberg

Rummelsberg 71

90592 Schwarzenbruck

Tel.: 09128 5043460

frank.kerling(at)sana.de

www.sana.de/rummelsberg/medizin-pflege/mzeb-rummelsberg

 

Ausgewählte Literatur:

  1. Forsgren L, Beghi E, Oun A, Sillanpaa M (2005) The epidemiology of epilepsy in Europe - a systematic review. European journal of neurology : the official journal of the European Federation of Neurological Societies 12:245-253
  2. Gilliam F, Carter J, Vahle V (2004) Tolerability of antiseizure medications: implications for health outcomes. Neurology 63:S9-S12
  3. Kostov K, Kostov H, Tauboll E (2009) Long-term vagus nerve stimulation in the treatment of Lennox-Gastaut syndrome. Epilepsy & behavior : E&B 16:321-324
  4. Kwan P, Brodie MJ (2000) Early identification of refractory epilepsy. N Engl J Med 342:314-319
  5. Malmgren K, Olsson I, Engman E, Flink R, Rydenhag B (2008) Seizure outcome after resective epilepsy surgery in patients with low IQ. Brain 131:535-542
  6. McDermott S, Moran R, Platt T, Wood H, Isaac T, Dasari S (2005) Prevalence of epilepsy in adults with mental retardation and related disabilities in primary care. Am J Ment Retard 110:48-56
  7. McGrother CW, Bhaumik S, Thorp CF, Hauck A, Branford D, Watson JM (2006) Epilepsy in adults with intellectual disabilities: prevalence, associations and service implications. Seizure 15:376-386