Mein Weg mit Epilepsie

© privat

In loser Reihenfolge stellen wir immer wieder Betroffene vor, die uns ihren ganz eigenen Weg mit der Erkrankung schildern und zeigen, wie sie ihr Leben mit Epilepsie bewältigen.

 

Hier die Geschichte von Thomas Odewald, Anfang 60, seit 2017 beruflich als Sozialberater bzw. „Teilhabeberater“ in einer EUTB (= Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung) tätig. Nach seinem Studienabschluss als Dipl.-Geograph war er über zwanzig Jahre in und für Einzelhandelsunternehmen in der Expansion/Standortentwicklung tätig. 2013 bis 2015 folgte eine Weiterbildung mit Abschluss als Heilerziehungspfleger.

 

Diagnose und Behandlung

Eine erste Verdachtsdiagnose stellte mein damaliger Hausarzt, dem ich meine starke Erschöpfung und Angstzustände schilderte – ich war 34 Jahre alt. Er untersuchte mich „ganzheitlich“ und entdeckte einen Zungenbiss. Es folgte die Überweisung zu einem Neurologen, Standarduntersuchungen in der Medizinischen Hochschule Hannover, erste Medikation. Alles ohne „Erfolg“. Nur die Anamnese selbst brachte Erkenntnisse: Grand mals im Schlaf – generalisierte tonisch-klonische Anfälle, die es wohl vereinzelt bereits seit ca. vier Jahren gab, und mit Schlafwandel und starken Nachwirkungen am nächsten Tag verbunden waren. Nun, mit Medikation, häuften sie sich (1- bis 2-mal im Monat), waren sehr heftig und führten zu Angstzuständen vor dem Einschlafen.

Was fehlte, waren die Antworten auf meine Fragen: Woher kommen diese Anfälle? Wie bekommt man sie wieder los? Es gab keine nachweisliche Diagnose, keine Perspektive bezüglich Medikation.

 

Bei den ersten Untersuchungen wurde eine Ursache schnell ausgeschlossen: ein Tumor im Gehirn. Für mein familiäres Umfeld hieß das Entwarnung. Alles andere interessierte nicht bzw. niemanden mehr. Außer einer Tante, die aus einem Buch zitierte, das sich mit dem Zusammenhang der seelischen Verfassung und Erkrankungen beschäftigte. Bei Epilepsie stand: „Die Angst, verfolgt zu werden“.

 

Wie sich später herausstellte, verstärkte das erste Medikament (Valproinsäure) die Anfälle bzw. meine Erregungszustände. Nach einem Dreivierteljahr wechselte ich den Arzt und das Medikament. Mit Phenobarbital waren die Anfälle sofort verschwunden und mein Zustand verbesserte sich von Woche zu Woche. Die Schäden bzw. Nebenwirkungen zeigten sich erst mit den Jahren. Etwa 15 Jahre hatte ich Ruhe.

 

Dann kamen die Anfälle in anderer Form wieder. Es brauchte zwei Jahre, bis ich realisierte, dass es sich hier auch um Epilepsie handelte – dies vor allen Dingen, weil die Attacken anfangs in großen Abständen auftraten.

 

Hatte die Epilepsie Auswirkungen auf Ihr Berufsleben?

Bei meiner damaligen Berufstätigkeit (Zeit der ersten Verdachtsdiagnose) musste ich viel reisen, hatte lange Arbeitstage und baute alleine eine Abteilung auf. Davor arbeitete ich zwei Jahre im Schichtdienst am Flughafen, immer unter Zeitdruck. Es gab keine Routine und keine Gleichförmigkeit. Aber so wie es war, wollte ich es.

 

Nach der Diagnose und Verschlimmerung wollte ich unbedingt an meinem Beruf festhalten. Ein offener Umgang, mögliche Einschränkungen kamen für mich nicht in Frage. Ich besuchte eine Selbsthilfegruppe und traf dort Menschen, die viel stärker und viel früher in ihrem Leben betroffen waren. Da wollte ich nicht dazugehören. Es blieb bei einem einmaligen Besuch. Ich wollte die Epilepsie loswerden wie einen Schnupfen.

© privat

Doch das Gegenteil passierte. Nach einem Dreivierteljahr offenbarte ich mich meinem Geschäftsführer, legte ihm den Schlüssel vom Dienstwagen hin und teilte ihm mit, dass ich vorerst nicht mehr Auto fahren durfte – damals galten zwei Jahre. Aber ich wollte trotzdem weitermachen, erledigte alles mit dem Zug. Das Unternehmen hielt an mir fest und ließ mich machen. Nach einem halben Jahr Anfallsfreiheit holte ich mir wieder ein Auto, und setze alles so fort wie bisher – in der Folge mit noch mehr Reisetätigkeit, mehr Aufgaben, mehr Verantwortung.

 

Heute weiß ich, dass es auch einen anderen Weg gegeben hätte. Doch in den Neunzigern gab es keine Anlauf- und Beratungsstellen. Von den Ärzten kam – außer Warnhinweisen – keine Unterstützung.

 

Es häuften sich einfach fokale Anfälle mit sensorisch-sensiblen Auren: Epigastrische Auren (aufsteigende Übelkeit) begleitet von psychischen Symptomen = Gefühl der Fremdheit aus dem Schlaf heraus in der Aufwachphase.

 

Es fanden erneut Standarduntersuchungen statt in einer Klinik in Bayreuth (wohin sich mein Lebensmittelpunkt verlagert hatte), wieder ohne Befund. Abermals begann die Suche nach einem geeigneten zusätzlichen Medikament – die ersten vier Jahre ohne Erfolg: anfangs Levetiracetam und später Lamotrigin.

 

Dann ein neuer Aufenthalt in einer weiteren Klinik mit einer Abteilung für Epileptologie: Erst in Rummelsberg, nach 22 Jahren ohne wirkliche Diagnose, gelang im Schlaflabor das erste Mal die Aufzeichnung eines Anfalls und die Stellung einer Diagnose: einfach fokale Anfälle. Lokalisation: Temporallappen rechts.

 

Es folgte eine gezielte Auswahl der Medikation mit dem Ziel, erstens Anfallsfreiheit herzustellen und zweitens das Barbiturat auszuschleichen, da bei Phenobarbital mit Langzeitschäden zu rechnen ist.

 

Bereits das zweite Medikament (Zonegran) brachte zwar weitgehende Anfallsfreiheit, allerdings mit unerwünschten Nebenwirkungen (starke depressive Stimmung), deswegen nach dreieinhalb Jahren ein erneuter Wechsel (Lacosamid) – mit Erfolg schon bei geringer Dosis.

 

Nach 26 Jahren und sieben verschiedenen Medikamenten bin ich nunmehr seit vier Jahren anfallsfrei. Ob für immer, weiß ich nicht. Doch ich fühle mich sicher, da ich fachlich gut angebunden bin. Die eigentlichen Ursachen kennt man bis heute nicht. Die wesentlichen Auslöser schon: Störung des Tag-Nacht-Rhythmus.

 

Haben Sie schon vor Ihrer Erkrankung von Epilepsie gehört?

Während der Schulzeit und dem Studium gab es keinerlei Anzeichen bei mir. Ich kannte auch niemanden mit einer solchen Erkrankung.

© privat

Und auch wenn das damalige Unternehmen nach meiner „Offenbarung“ an mir festhielt, unmittelbar anstehende Karriereschritte wurden unterbrochen.

 

Mussten Sie sich aufgrund der Anfälle beruflich neu orientieren?

Für neue Herausforderungen und Aufgaben musste ich das Unternehmen wechseln. Meine spätere Neuausrichtung auf ein anderes Berufsfeld im pädagogischen Bereich hatte aber ausschließlich mit den strukturellen Veränderungen im Einzelhandel zu tun.

 

Was ist für Sie persönlich die größte Einschränkung durch Ihre Epilepsie?

Diese ergaben und ergeben sich hauptsächlich durch die Nebenwirkungen der Medikamente. Deren Einfluss auf Stimmung, Antrieb und Emotionalität bedeuten für mich, nicht wirklich „selbstbestimmt“ leben zu können.

 

Verbinden Sie mit der Krankheit auch etwas Positives?

Eine gewachsene Empathie für Menschen mit einer chronischen Erkrankung – insbesondere beim Verhältnis des Patienten zu Ärzten, wenn es um Diagnose und Therapie und die (oft fehlende) ganzheitliche Sicht auf den Menschen geht. Meine Einsichten und Erfahrungen kann ich in meiner aktuellen Tätigkeit als professionelle Empathie einsetzen.

 

Was war Ihr negativstes Erlebnis in Bezug auf Epilepsie?

In meinem jetzigen Berufsfeld der Heil- und Sozialpädagogik hatte ich in den letzten Jahren einige sehr negative Erlebnisse: Absolutes Unverständnis, keinerlei Empathie und null Entgegenkommen, wenn es um meine Behinderung ging – insbesondere meine Einschränkung bezüglich Schichtdienstes. Der soziale Bereich ist mit Abstand am wenigsten sozial, wenn es um die eigenen Mitarbeiter geht. Von Inklusion keine Spur!

 

Was war Ihr positivstes Erlebnis in Bezug auf die Erkrankung?

Bei den Begegnungen mit den wenigen kompetenten Ärzten sei hier insbesondere die Rummelsberger Klinik mit Herrn Dr. Kerling genannt. Seine Geduld, seine „Erreichbarkeit“ bei der Anamnese in Sachen Medikation und der mir gewährte Freiraum bei deren Anpassung haben mir am meisten geholfen.

Letztendlich ist dies auch mein Fazit:

Wie bei anderen Erkrankungen war es immer auch eine Suche. Der erste Arzt ist natürlich selten auch gleich der Richtige. Gleiches gilt für die Medikation. Dieser „Prozess“ ist oft langwierig und fordert Kraft.

 

Thomas Odewald

zusammengefasst von Doris Wittig-Moßner