Mein Weg mit Epilepsie
In loser Reihenfolge stellen wir immer wieder Betroffene vor, die uns ihren ganz eigenen Weg mit der Erkrankung schildern und zeigen, wie sie ihr Leben mit Epilepsie bewältigen.
Hier die Geschichte von Christine, 60 Jahre alt, gelernte Industriekauffrau, jahrzehntelang als Projektkauffrau tätig. Sie lebt seit mehr als 40 Jahren mit epileptischen Anfällen und bekommt seit Mitte 2021 volle Erwerbsminderungsrente.
Diagnose
- Art der Anfälle: Grand mal
- Häufigkeit: sehr unterschiedlich, von 8x pro Jahr bis zu einem Anfall alle 2 Jahre
- Erster Anfall im Alter von 17 Jahren
Wie war das in der Schulzeit? Wussten Ihre Mitschüler und/oder Lehrer von der Epilepsie? Haben die Anfälle Sie in irgendeiner Form eingeschränkt?
Meine Anfälle traten erst in der 10. Klasse der Realschule auf. Die Klassenlehrerin war informiert durch meine Eltern und nur meine Freundinnen wussten davon. An der Abschlussfahrt durfte ich aber nicht teilnehmen. Meine Eltern gaben mir immer das Gefühl, trotzdem ein »normales« Leben führen zu können. »Schwächeln« war nicht drin. Über Epilepsie wurde in der Familie allerdings nicht gesprochen, erst recht nicht später beim Arbeitgeber. Ich durfte schwimmen, tanzte in Diskotheken, trank allerdings keinen Alkohol, rauchte jedoch. Die Arzthelferin beim Neurologen erklärte mir »so nebenbei«, dass die Krankheit unheilbar sei, was natürlich ein richtiger Schock für mich als Jugendliche war.
Ich bin mir sicher, dass sich meine Eltern sehr sorgten, sie ließen sich mir gegenüber aber nichts anmerken. Im Nachhinein – nach 42-jähriger Erfahrung mit Epilepsie – muss ich sagen, sie haben für mich das einzig Richtige gemacht. Nur ein bisschen mehr Aufklärung wäre von Vorteil gewesen, doch ich vermute, meine Eltern waren diesbezüglich auch unwissend.
Haben Sie schon vor Ihrer Erkrankung von Epilepsie gehört?
Nein, ich hatte weder davon gehört noch kannte ich irgendjemanden mit dieser Krankheit. Ich wusste rein gar nichts – was ich allerdings wusste: Ich hatte anfangs ständig Angst, irgendwo umzufallen – wo auch immer das sein sollte z. B. in der Straßenbahn oder untertags in der Arbeit.
Lange Zeit begleiteten mich diese Angstzustände, bis ich langsam die Auslöser verstand und die Tageszeiten herausfand, an denen ich besonders gefährdet war. Ich hatte sozusagen »Glück im Unglück« – die Anfälle traten fast immer innerhalb von 20 Minuten nach dem Aufstehen bzw. Wachwerden auf. Medikamentös bin ich aktuell gut eingestellt, was aber seine Zeit dauerte. Bis dahin war es ein wahnsinniges Auf und Ab – mir kam es so vor, als würden die Ärzte experimentieren, welches das richtige Medikament für mich sei.
Welche Berufsausbildung haben Sie absolviert? Konnten Sie Ihren Berufswunsch verwirklichen oder mussten Sie Abstriche machen?
Meinen Beruf konnte ich mir frei aussuchen. Das Arbeitsamt war in der Schule und stellte verschiedene Möglichkeiten vor. Ich wählte eine Ausbildung zur Industriekauffrau und schloss diese erfolgreich ab. Allerdings waren die Lehrstellen zu meiner Zeit sehr rar. Es war nicht einfach, eine Lehrstelle zu finden. Doch durch den Einsatz meiner Eltern konnte ich in einem großen Unternehmen meine Ausbildung beginnen.
Meine Epilepsie hatte glücklicherweise keinerlei Auswirkungen auf mein Berufsleben. Ich habe immer mehr geleistet als manch anderer, meine Ansprüche an mich waren hoch und niemand in der Arbeit nahm Rücksicht auf meine »Erkrankung« – auch als dem Arbeitgeber dann bekannt war, dass ich den Schwerbehindertenstatus hatte. Im Gegenteil, es wurde immer mehr eingefordert.
Was sind für Sie persönlich die größten Einschränkungen durch Ihre Epilepsie?
Den Führerschein durfte ich erst später machen. Aber vor allen Dingen waren wie bereits erwähnt die Unwissenheit über die Krankheit und die damit verbundenen Angstzustände für mich lange Zeit negative Begleiterscheinungen. Später musste ich dann Entscheidungen treffen, die mit vielen Fragen verbunden waren: Kann ich schwanger werden? Wird mein Kind gesund zur Welt kommen? Heute weiß ich: Erziehung ist eine große Herausforderung und verlangt einem viel ab, ein relativ stabiler Gesundheitszustand ist dabei von Vorteil.
Verbinden Sie mit der Erkrankung auch etwas Positives?
Die Frage ist schwierig zu beantworten. Ich kann aus meinen Erfahrungen heraus nur sagen, dass ich jetzt viele Dinge gelassener sehe. Ich habe immer versucht, positiv zu denken und die Krankheit zu akzeptieren, um daraus das Beste zu machen. Wenn es mir schlecht ging, machte ich mir bewusst, dass es Menschen gibt, deren Zustand noch schlechter war als meiner – und schon war alles nicht mehr so dramatisch.
Jetzt im Alter habe ich durch die jahrelangen Begleiterscheinungen der Tabletten (wie
z. B. Müdigkeit und Antriebslosigkeit) die volle Erwerbsminderungsrente genehmigt bekommen. Ich muss nicht mehr arbeiten, was mir in den vergangenen Jahren doch immer schwerer fiel. In den letzten EEGs zeichneten sich wesentliche Verbesserungen ab, was für mich ein Indiz ist, dass Ruhe, das Vermeiden von Aufregung und Schlafen nach Bedarf erheblich hierzu beitrugen.
Außerdem habe ich zwei wundervolle Kinder, die gelernt haben, dass nicht immer alles möglich ist und mit meinen Anfällen umgehen können, die sich um andere Menschen sorgen – das empfinde ich schon als sehr positiv.
Ebenfalls war für meinen Partner die Krankheit nie ein Hindernis, sie gehörte einfach zu mir und er versorgte mich nach einem Anfall verständnisvoll. Ihm ging bzw. geht es immer um mich, um meine Persönlichkeit.
An dieser Stelle will ich mich recht herzlich bedanken bei meinen Eltern, Geschwistern, meinen Kindern und meinem Partner, für alles, was sie mir gegeben und wie sie mir geholfen haben.
Was sind Ihre negativen Erfahrungen in Bezug auf Ihre Erkrankung?
Die Anfälle mit ihrer Verletzungsgefahr (z. B. Kieferbruch, Wunden, die genäht werden mussten, Kopfverletzung). Jeder Anfall gibt einem das Gefühl eines Rückschlags. Insbesondere für den Partner: Wird er damit umgehen können?
Und die Verfügbarkeit meiner Medikamente: Wird das von mir eingenommene Mittel noch produziert oder stehe ich – wie vor einigen Jahren geschehen – wieder vor vollendeten Tatsachen, dass ein Produkt einfach nirgends mehr aufzutreiben ist. Kann ich dann mein Leben noch so weiterführen wie bisher oder stehe ich vor einem totalen Zusammenbruch, weil kein geeigneter Wirkstoff für mich auf dem Markt zu finden ist? Was dann? Anfall, Verletzungen, Anfall, Verletzungen und immer wieder angewiesen sein auf andere?
Eine große Herausforderung für die Alltagsbewältigung sind außerdem die Nebenwirkungen der Medikamente – gerade in Kombination mit Kindererziehung, Schule, Haushalt, Beruf und der Tatsache, nach meiner Scheidung alles allein meistern zu müssen.
Was war Ihr positivstes Erlebnis in Bezug auf die Erkrankung?
Eine andere Lebenseinstellung! Früher in Rente zu gehen – zwar mit Abschlägen (was ich nicht befürworte) – und nicht mehr dem Stress ausgesetzt sein zu müssen, hat mir geholfen, mich gesünder zu fühlen, was auch im EEG zu sehen ist.
Was möchten Sie anderen Betroffenen noch sagen zum Thema Epilepsie oder was liegt Ihnen generell am Herzen?
Nach meinen mehr als vier Jahrzehnten mit Epilepsie kann ich meine Erfahrung teilen:
- Kämpfen, immer wieder aufstehen, es lohnt sich weiterzumachen.
- Sich beobachten: Wann und wo habe ich was getan, gegessen oder getrunken? War dies vielleicht der Auslöser für den Anfall? Kann ich Dinge vermeiden, die mir nicht guttun?
- Stress meiden, sofern dies möglich ist.
- Medikamente regelmäßig einnehmen: In meinen jungen Jahren sah ich die Einnahme der Pillen zeitenweise als unwichtig und lästig an. Durch das Weglassen wurde ich schnell in die Realität zurückgeholt und so nahm ich die verordneten Tabletten wieder planmäßig ein, da ich wochenlang nach einem Anfall zu kämpfen hatte, mein Leben in den Griff zu bekommen.
- Unterstützung/Austausch in Selbsthilfegruppen suchen: Dadurch kann man sich besser über Epilepsie informieren, lernt andere Betroffene und deren Schicksalsschläge kennen, die Gruppe gibt Zusammenhalt und Freude mit unterschiedlichen Aktivitäten wie evtl. Basteln, Ausflüge zu Seminaren etc. Informationen aus dem Internet sind teilweise gut, doch können sie die Gespräche in einer Selbsthilfegruppe nicht ersetzen – Reden und Zuhören hilft!
Mir persönlich tun auch Vitamin-Präparate gut, die ich zwischendurch immer wieder mal einnehme. Ich habe das Gefühl, dass sich diese positiv auf meine Gesundheit auswirken.
Ein großes Anliegen von mir:
Frauen haben durch Kindererziehung, Haushalt und Beruf erhebliche Einbußen beim Verdienst. Ich konnte aufgrund meiner Kinder und meines Gesundheitszustandes die letzten Jahre nur in Teilzeit arbeiten. Dies wirkt sich natürlich auf die Rentenpunkte aus.
Hinzu kommt, dass ich nach 42-jähriger Berufstätigkeit – was manch anderer gar nicht erreicht in seinem Berufsleben – und 42-jähriger Schwerbehinderung noch mit Abschlägen in Rente gehen muss, obwohl ich stets meinen »Mann gestanden habe«. Ist das sozial gerecht? Wäre ein Rentenbeginn, wie in meinem Fall mit 61 und 6 Monaten ohne Abschläge nicht gerechter? Ich würde mir und vielen anderen Frauen wünschen, dass sich diesbezüglich etwas ändert!
Christine
Zusammengefasst von Doris Wittig-Moßner