Flip & Flap

Bild von Flip und Flap

Ein Schulungsprogramm für Kinder und Jugendliche mit Epilepsie
und ihre Eltern


In den Epilepsiesprechstunden stellten wir immer wieder fest, dass die Anliegen und Fragestellungen der Patienten und ihrer Eltern nicht ausreichend abgedeckt werden konnten. Standardisierte Schulungsprogramme für Kinder und Jugendliche, wie sie beispielsweise im Bereich von Asthma und Diabetes etabliert sind, lagen im deutschsprachigen Raum nicht vor. Ein entsprechender Pilotkurs für Kinder und Jugendliche mit Epilepsie und ihre Eltern im August 2000 an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Lübeck stieß auf derart positive Resonanz, dass wir uns entschlossen, systematisch ein Schulungsprogramm zu erarbeiten. Die Entwicklung wurde von drei Schulungsdurchgängen begleitet. Die Ergebnisse eines jeden Durchgangs dienten der Verbesserung der nachfolgenden Schulung sowie in einem letzten Schritt der Anpassung des Schulungsmaterials. Dabei wurden Patienten, ihre Eltern als auch die Kursleiter in Interviews und Fragebögen nach ihrer Schulungszufriedenheit befragt, zudem wurden auf Patienten- und Elternebene erste Schulungseffekte vor allem im Bereich epilepsiespezifischen Wissens erhoben. Kooperationspartner in der Entwicklungsphase des Flip & Flap-Schulungsprogramms waren das Katholische Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Hamburg (im Herbst 2001), die Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln, Universität Witten/Herdecke (im Frühjahr 2002), sowie das Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover (im Herbst 2002).

Zielgruppe des Flip&Flap-Programms in seiner derzeitigen Konzeption sind weitgehend altersangemessen entwickelte, epilepsiekranke, antikonvulsiv behandelte Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 15 Jahren und deren Eltern. Eine Erweiterung des Programms für epilepsiekranke ältere Kinder und Jugendliche mit Lernbehinderungen und ihre Eltern ist möglich.

Das Programm wird aktuell in 3-tägigen Kursblöcken im Umfang von 15 Stunden von Freitagnachmittag (in der Elternschulung: von Freitagabend) bis Sonntagnachmittag durchgeführt. Die Gruppengröße in den Kinder-/ und Jugendlichenschulungen sollte 6 Teilnehmer nach Möglichkeit nicht überschreiten. Die Kursleitung wird von den Mitarbeitern der jeweils kooperierenden Klinik übernommen. Alle Kursleiter wurden vor Durchführung des Programms in Train-the-Trainer-Kursen geschult. Während die Elternschulung von Arzt/Ärztin und Psychologe/ in geleitet wird, wird die Kinder- und Jugendlichenschulung von zwei Kinderkran-kenschwestern/- pflegern, vorzugsweise aus der Neuropädiatrie geleitet.

Auf Teilnehmerebene werden bei inhaltlich enger Vernetzung zwischen den einzelnen Kursen, Eltern, Kinder (7- ca. 10 Jahre) und Jugendliche (ca. 11-15 Jahre) jeweils getrennt geschult. Das Kinder- und Jugendlichenprogramm setzt sich jeweils aus 8 Kurseinheiten zusammen. Das Elternprogramm umfasst zwei Teile, einen überwiegend medizinischen und einen psychosozialen. Beide Teile sind in einzelne Kapitel unterteilt.

Während im ersten Teil epilepsiespezifisches Grundlagenwissen vermittelt wird sowie Behand-ungsmöglichkeiten aufgezeigt und diskutiert werden, umfasst der zweite Teil schwerpunktmäßig folgende Themen, die im übrigen ebenfalls das Kinder-/ Jugendlichenprogramm bestimmen: „Das Krankheitserleben“, „epilepsie-bedingte Vorsichtsmaßnahmen“, „die selbstständige Medikamenteneinnahme“, „das Informationsmanagement (Wem und wie erzähle ich von der Erkrankung?)“ und „Epilepsie in Schule und Beruf“. Gesondert zu erwähnen ist die Kurseinheit „Diagnostik“ im Elternkurs, die gemeinsam von Arzt/Ärztin und Psychologe/in geleitet wird und in der eine erste Einschätzung vorgenommen wird in bezug auf „Auffälligkeiten“, die Eltern erkrankungsbedingt bei ihrem Kind beobachten sowie Möglichkeiten und Grenzen weiterführender Diagnostik erläutert und Fördermöglichkeiten aufgezeigt werden. Methodisch stützt sich das Programm auf familien- und verhaltenstherapeutisches Inventar (Ressourcenorientierung, Rollenspiele, Problemlösetraining) unter Einbeziehung von Erlebnispädagogik in der Kinder- und Jugendlichenschulung.

Begleitendes Kursmaterial für die Kinder- und Jugendlichen ist ein Comicheft

Flip und Flap Cover(Abbildung 1: Flip & Flap: eine Geschichte über Nervenzellen, Epilepsie und die Friedastraßenband) und ein „Flip & Flap-Arbeitsheft“. Die Eltern erhalten eine Broschüre, die die Inhalte des Kurses zusammenfaßt. Ein besonderes Anliegen des Flip & Flap-Programms ist die engmaschige, inhaltliche teilweise auch didaktische Vernetzung zwischen den Kurseinheiten der Eltern- und Kinder-/Jugendlichenschulung. Ein Beispiel hierfür ist die Vermittlung epilepsiespezifischen Grundlagenwissens: Wie in Voruntersuchungen zum Programm deutlich wurde, wird das Krankheitsmanagement häufig von den Eltern geleistet. Die Kinder und Jugendlichen werden durch ihre Eltern und die Behandler , u. a. aus Schutzbedürfnis nicht oder nur unvollständig über die Erkrankung aufgeklärt, mit der Folge, dass sie kein oder nur ein geringes Verständnis für eine krankheitsangemessene Lebensführung entwickeln. Aus diesem Grund liegt einer der Schwerpunkte der Schulung zunächst auf der kindgerechten Erklärung des Anfallsgeschehens, mit der gleichzeitigen Anregung zum Gespräch über die Erkrankung. Die Kursleiter vermitteln sowohl Eltern als auch Kindern/ Jugendlichen das Anfallsgeschehen am gleichen Erklärungsmodell. In den Kapiteln des Comicheftes: „Eine Reise ins Gehirn“ und „Wenn Flap ein Fehler passiert“, wird erarbeitet, was während eines Anfalls im Gehirn passiert. In der Kinderschulung wird dieses Geschehen zusätzlich durch Handpuppenspiele mit den Identifikationsfiguren Flip & Flap verdeutlicht (Flip, die fitte und Flap, die ungeschickte Nervenzelle, der hin und wieder Fehler passieren, die zu Anfällen führen können).

Darüber hinaus malen die Kinder und Jugendlichen Bilder über das, was sie von ihren Anfällen wissen und lernen im Comicheft die häufigsten Anfallsarten kennen. Auf diese Weise erfahren viele Kinder und Jugendliche zum ersten Mal wie und wie unterschiedlich Anfälle aussehen können. Außerdem sehen die Kinder und Jugendlichen mit dem Einverständnis ihrer Eltern einen Film über Anfälle. Zusammenfassend erarbeiten Eltern im Flip & Flap-Arbeitsheft (gemeinsam mit ihren Kindern) den individuellen Anfallsablauf ihrer Kinder anhand von bebilderten Aufklebern.

Flip und Flap Bild

In den Kinder- und Jugendlichenkursen wird das auf diese Weise vermittelte epilepsiespezifische Grundlagenwissen mittels eines Brettspiels (das „Epilepsie-Experten-Spiel“) in verschiedenen Runden wiederholt. Zum Thema „epilepsiebedingte Vorsichtsmaßnahmen“ erstellen sowohl Eltern für ihre Kinder als auch die Kinder/Jugendlichen am gleichen Bildmaterial ihr individuelles Profil bezüglich einer krankheitsangemessenen Lebensweise. Gleichzeitig werden innerhalb der jeweiligen Gruppe alltagspraktische Tipps für den Umgang mit entsprechenden Einschränkungen erarbeitet (z. B.: „Was brauche ich, um mich beim Schwimmen gehen sicher zu fühlen?“)

In Bezug auf die selbständige Medikamenteneinnahme durch die Kinder und Jugendlichen wurde deutlich, dass diese seitens der Eltern unterschätzt wird. Hier wird ein „niedrigschwelliges“ Angebot, zunächst in Form eines zweimonatigen „Probelaufs“ von den Familien gut akzeptiert. Für dessen Umsetzung erhalten die Kinder und Jugendlichen einen Wochendosierer, den sie selbst auffüllen sollen und der gleichzeitig den Eltern die Möglichkeit zur „stummen Kontrolle“ bietet. Als Erinnerung an die Tabletteneinnahme dienen Flip & Flap-Aufkleber (Hinweisreize). Zwischen Eltern und Kindern wird zudem ein Vertrag unterschrieben, in dem Belohnungen während des Probelaufs für Fortschritte in der Selbständigkeit vereinbart werden.

In der Kurseinheit „Informationsmanagement“ werden Vor- und Nachteile eines offenen Umgangsstils thematisiert und die Aufklärung über die Erkrankung in Rollenspielen eingeübt. In den Kinder-/Jugendlichenkursen werden aufgrund der Ängste und Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen in bezug auf Diskriminierungen bei Bekanntwerden der Erkrankung, Strategien erarbeitet und spielerisch erlebbar gemacht, die ihnen helfen, in derartigen Situationen selbstsicher zu reagieren.

Abschließend haben die Kinder und Jugendlichen die Möglichkeit, ihr im Kurs erworbenes epilepsiespezifisches Wissen und ihr Wissen über Kompetenzen im Umgang mit der Erkrankung auf einem von ihnen erstellten Epilepsie-Plakat zu präsen-tieren. Dieses kann zum Beispiel im Wartezimmer aufgehängt werden und hiermit gleichzeitig der Aufklärung weiterer Patienten dienen In ersten Effektivitätsnachweisen im Rahmen der Entwicklung des Programms konnte gezeigt werden, dass die Teilnehmer einen Wissenszuwachs hatten und viele Kinder- und Jugendliche das Comicheft mit in die Schule nahmen, um anhand desselbigen erstmalig von ihrer Erkrankung zu erzählen. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen setzte die selbstständige Tabletteneinnnahme mit hoher Motivation um. Mitarbeiter der Kliniken, in denen das Programm durchgeführt wird, berichten, das Erklärungsmodell im Klinkalltag zur Aufklärung der Patienten zu nutzen sowie über eine Intensivierung ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit.

Das Flip&Flap-Programm wird seit August des Jahres durch die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin in Lübeck (Leitung der Studie: Frau PD Dr. med. U. Thyen) multizentrisch evaluiert.

Kontakt bei Interesse am Flip & Flap-Schulungsprogramm:
Dipl.-Päd. Stefan Häger,
Klinik für Kinder- und Jugendmedizin,
Universitätsklinikum Schleswig- Holstein-Campus Lübeck
Ratzeburger Allee 160,
D-23538 Lübeck
Tel: 0451-5003757
Öffnet ein Fenster zum Versenden einer E-Mailhaeger(at)paedia.ukl.mu-luebeck.de
sowie: Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.epilepsieschulung.de

S. Jantzen (1) , T. Krisl (2) , J. Sperner (1) , F. Aksu (3) , B. Püst (4) , M. Kappes (5) , A.Redlich (2) , J. Zienert (2) , P. Orban (6) , U. Thyen (1)

  1. Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin
  2. Psychologisches Institut der Universität Hamburg
  3. Vestische Kinder- und Jugendklinik Datteln, Universität Witten/Herdecke
  4. Katholisches Kinderkrankenhaus Wilhelmstift, Hamburg
  5. Institut für Verhaltenstherapie, Berlin
  6. Abteilung für Wachstum und Entwicklung, Kinderspital Zürich