Änderungen im Sozialgesetzbuch IX

        
Am 23. April 2004 hat der Bundestag das Gesetz zur Förderung der Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen beschlossen. Daraus ergeben sich zahlreiche Änderungen im Sozialgesetzbuch IX, das die wesentlichen Regelungen für die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen enthält.

Im folgenden werden die auch für Menschen mit Epilepsie relevanten Änderungen dargestellt:

Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber

  • Arbeitgeber mit mindestens 20 Beschäftigten müssen weiterhin nur 5 % der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Betriebe mit weniger als 40 Arbeitsplätzen müssen jahresdurchschnittlich aber nur einen und Betriebe mit weniger als 60 Arbeitsplätzen nur zwei Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen.
  • Die Höhe der Ausgleichsabgabe je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz beträgt 105 €/Mo, wenn mindestens 3 %, 180 €/Mo wenn mindestens 2 % und 260 € / Mo, wenn weniger als 2 % der Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzt sind.
  • Die Ausgleichsabgabe ist, wie schon bisher, dynamisiert. Die Anpassung erfolgt jeweils zum 1. Januar des Kalenderjahres.


Anreize zur betrieblichen Ausbildung behinderter Jugendlicher und junger Erwachsener und zur besseren Verzahnung von betrieblicher und überbetrieblicher Ausbildung

  • Behinderte Jugendliche und junge Erwachsene mit einem Grad der Behinderung unter 30 oder deren Grad der Behinderung bisher nicht festgestellt wurde, können während einer betrieblichen Ausbildung schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden.
  • Die Integrationsämter (ehemalige Hauptfürsorgestellen) können Prämien und Zuschüsse an Arbeitgeber die Schwerbehinderten gleichgestellte Jugendliche und junge Erwachsene ausbilden, bezahlen.
  • Schwerbehinderte Menschen (oder Gleichgestellte), die betrieblich ausgebildet werden, können während der Ausbildung und bei Weiterbeschäftigung im ersten Jahr nach Ausbildungsabschluss auf zwei Pflichtarbeitsplätze angerechnet werden.
  • Arbeitgeber mit Stellen für Auszubildende müssen mit den Interessenvertretungen der Schwerbehinderten (Vertrauensfrauen und Vertrauensmänner) über die Besetzung eines angemessenen Anteils mit schwerbehinderten Menschen beraten.
  • Arbeitgeber treffen mit der Schwerbehindertenvertretung Integrationsvereinbarungen, die u. a. auch Regelungen zur Ausbildung behinderter Jugendlicher einschließen können.
  • Zu den Aufgaben der Integrationsfachdienste gehört es die betriebliche Ausbildung, insbesondere seelisch und lernbehinderter Jugendlicher zu begleiten.
  • Einrichtungen zur beruflichen Rehabilitation sollen darauf hinwirken, dass Teile der Ausbildung in Betrieben durchgeführt werden (gilt auch für Erwachsene, die umgeschult werden)


Erweiterung der Förderung zum Übergang von in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) Beschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt

Zu den schon bisher bestehenden Möglichkeiten aufwendiger, zeitintensiver, arbeitsbegleitender Hilfen durch die Integrationsfachdienste sind zusätzliche Anreize geschaffen worden:

  • Menschen, die im Anschluss an eine Beschäftigung in einer WfbM auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt werden, können auf bis zu drei Pflichtarbeitsplätze angerechnet werden.
  • Das Integrationsamt kann Geldleistungen an Arbeitgeber erbringen für außergewöhnliche Belastungen die mit der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen im Anschluss an eine Beschäftigung in einer anerkannten WfbM verbunden sind.


Prävention

  • Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres 6 Wochen ohne Unterbrechung oder wiederholt arbeitsunfähig klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung , mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person, die Möglichkeiten die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und mit welchen Leistungen und Hilfen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement)
  • Rehabilitationsträger und Integrationsämter können Arbeitgeber, die ein Eingliederungsmanagement einführen, durch Prämien oder einen Bonus fördern.


Ausbau der Integrationsfachdienste, Verschiebung der Strukturverantwortung von der Bundesagentur für Arbeit auf die Integrationsämter

  • Die Integrationsämter sollen ihre psychosozialen und arbeitsbegleitenden Dienste im Rahmen der Integrationsfachdienste anbieten
  • Die Integrationsfachdienste sollen zusätzlich zu den bisherigen Aufgaben bei der Eingliederung behinderter Menschen in den allgemeinen Arbeitsmarkt Ansprechpartner für die Arbeitgeber werden, über Leistungen informieren und die benötigten Leistungen mit den Integrationsämtern und Rehabilitationsträgern abklären und Hilfestellung bei der Beantragung geben.


Unbefristete Erteilung von Schwerbehindertenausweisen

  • Die Gültigkeitsdauer von Schwerbehindertenausweisen war bisher befristet. Es besteht nun auch die Möglichkeit, Schwerbehindertenausweise unbefristet auszustellen.


Kommentar:
In ihrer Gesamtheit sind die neuen Regelungen zu begrüßen. Es sind aber Schwierigkeiten bei ihrer Umsetzung zu erwarten. Dies gilt u. E. insbesondere für Menschen mit Epilepsie:

Die betriebliche Ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen mit Epilepsie ist sehr begrüßenswert, da sie die Beschäftigungschancen nach Ausbildungsabschluss erhöht. Betriebliche Ausbildung ist nach unseren Erfahrungen aber nur bei vergleichsweise günstigem Epilepsieverlauf oder intensiver Begleitung und Information des Arbeitgebers möglich. D. h. Arbeitgeber, Schwerbehindertenvertretungen und die Mitarbeiter von Integrationsfachdiensten müssen gut über Epilepsie informiert sein und gegebenenfalls Beratung aus einer Beratungsstelle für Epilepsie, Anfallsambulanz mit Sozialarbeiter/in, einem Epilepsiezentrum oder einer Rehabilitationseinrichtung für Epilepsie erhalten.

Gleiches gilt für den Übergang von Menschen mit Epilepsie aus einer WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Dieser Wunsch besteht recht häufig bei Beschäftigten mit Epilepsie in WfbM, vor allem dann, wenn sie in die Werkstatt eingegliedert wurden nachdem Eingliederungsversuche auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wegen der Epilepsie gescheitert sind.

Die Ansätze zur Prävention langer Arbeitsunfähigkeiten sind für Epilepsiekranke besonders relevant. Aus unserer Erfahrung werden sie bei betrieblichen Schwierigkeiten infolge der Epilepsie (Verschlechterung der Anfallssituation, unzureichende Belastbarkeit, Konzentrations-, Gedächtnis- oder andere Teilleistungsstörungen) häufig langfristig arbeitsunfähig krank geschrieben, ohne dass Interventionen zur Besserung der Situation in die Wege geleitet werden (Abklärung in einer spezialisierten Behandlungseinrichtung oder Rehabilitationsklinik für Epilepsie). Solche Interventionen werden erst nach 18 Monaten (Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug) erzwungen durch den dann zumeist bestehenden Zwang zur Beantragung von Rehabilitationsmaßnahmen. Nicht selten sind sie dann aber zu spät, trotz Verbesserung der Leistungsfähigkeit, da der Arbeitsplatz nicht mehr vorhanden ist.

Die Beauftragung der Integrationsfachdienste Arbeitgebern über die Rehabilitationsmöglichkeiten zu informieren Hilfestellung bei der Beantragung von Hilfen zu geben ist sinnvoll aber für Menschen mit Epilepsie nicht ausreichend. Sie setzt voraus, dass die Fachdienste gut informiert sind und für die Betreuung einzelner Personen mit Epilepsie von einer Beratungsstelle für Epilepsie, einer Anfallsambulanz/Epilepsiezentrum/Rehabilitationseinrichtung für Anfallskranke mit erfahrenem Sozialarbeiter/in fachkundige Unterstützung erhalten, was nur an wenigen Orten der Fall sein dürfte.

Die jetzt mögliche Erteilung von unbefristeten Schwerbehindertenausweisen könnte sich ungünstig auf die Rehabilitationsanstrengungen bei Epilepsie auswirken. Auch nach langem Krankheitsverlauf können sich, insbesondere durch operative Behandlung, dramatische Verbesserungen der Anfallssituation ergeben. Der dann ohnehin schwierige Wechsel in Rollen mit weniger Einschränkungen (und weniger Unterstützung) würde erheblich erschwert, wenn durch diese Neuregelung der Behindertenstatus auf Dauer festgeschrieben wird.

R. Thorbecke, Bielefeld
Epilepsiezentrum Bielefeld-Bethel, Rehabilitationsklinik


Quelle: Zeitschrift für Epileptologie, Heft 3 August 2004
Z Epileptol 17:233-234 (2004)