Der epileptische Anfall - letzter Ausweg der Energie?

Das ganz individuelle Erleben von Anfällen und die durchaus bildhaften Vorstellungen, die sich Menschen mit Epilepsie von ihrer Krankheit und ihren Anfällen machen, möchten wir in folgendem Artikel vorstellen. Eine junge Frau beschreibt, wie die Epilepsie sie beeinflusst, was sie bei sich selbst als Auslöser für ihre Anfälle erlebt und wie sie dem begegnen möchte. Hierbei steht für uns nicht die exakte wissenschaftliche Erklärung im Vordergrund, sondern die ganz persönliche, einmalige Darstellung, Entwicklung und Gedankenwelt.

Der epileptische Anfall - letzter Ausweg der Energie?

Jedes Mal, wenn meine Mutter einen meiner Anfälle miterlebt, ist sie geschockt. Sie beschreibt mir den leeren Blick, die schlaffe Muskulatur, keine Reaktion auf ihre Worte. Sie fordert mich auf, mit den Armen zu pumpen, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, und sieht hilflos zu, wie ich im Schneckentempo die Fäuste balle. Die einfach-fokalen Anfälle, die mich seit fünf Jahren begleiten, erschrecken meine Umwelt noch mehr als mich selbst. Ich hatte schon in der Grundschule das Gefühl, am Tag zu träumen, das hatte aber niemand als ungewöhnlich angesehen. Erst als ich in der 9. Klasse vor den Augen meiner Mitschüler mit einem Grand-Mal zusammengebrochen bin, wurde die Diagnose Epilepsie gestellt. Leider konnten die Ärzte mir aber eine wichtige Frage nicht beantworten: Was hat die Anfälle ausgelöst?

Epilepsien werden häufig durch Verletzungen des Gehirns, Unfälle, Blutungen oder Tumore ausgelöst. Eigentlich war ich froh, als bei der Kernspin-Tomographie nichts dergleichen entdeckt wurde. Die Möglichkeit einer Vererbung wurde auch ausgeschlossen. Daher können die Neurologen mir nicht erklären, was die Ursache für meine Anfälle ist. Sie rieten mir zur medikamentösen Therapie, um wenigstens die Symptome zu bekämpfen. Ich hoffte auf Erfolg, aber inzwischen scheint das dritte Antiepileptikum wirkungslos zu sein. Statt einer Verbesserung habe ich inzwischen zusätzlich komplex-fokale Anfälle mit Bewusstseinsverlust. Da mir niemand sagen konnte, warum es schlimmer wird, habe ich begonnen, selber nach einem möglichen Grund für die Anfälle zu suchen. Dabei bin ich auf das Buch "Krankheit als Sprache des Seele" von Rüdiger Dahlke gestoßen. Er beschreibt Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesundheit und analysiert viele Krankheiten ohne erkennbare Ursache.

Dahlke vergleicht einen epileptischen Anfall mit einem Erdbeben, von dem man meinen könnte, es sei ein Anfall der Erde. Der Boden unter den Füßen "zuckt", Seismografen zeichnen ähnliche Wellen auf wie das EEG bei einem Epilepsie-Patienten. Selbst der Name "Grand Mal" für eine extreme Anfallsform ist übertragbar, denn für die Betroffenen ist ein Erdbeben ein großes Übel. Aber für die Erde selbst?

Erdbeben entstehen an den Spannungszonen der Erdoberfläche. Die nicht ganz homogenen Ränder der Kontinentalplatten verschieben sich im Laufe der Zeit gegeneinander und bauen enorme Spannungen auf. Diese entladen sich, wenn das Höchstmaß überschritten ist, innerhalb von Sekunden in einem anfallsartigen Beben. Die Erde braucht diese Beben, um ihre inneren Spannungen loszuwerden, die sie sonst zerreißen würden. Sie sind für sie überlebensnotwendig. Diese Ursache-Wirkungs-Kette überträgt Dahlke auf den Menschen. Die Annahme, dass ein epileptischer Anfall, so schrecklich er sein mag, aus Sicht des Körpers notwendig ist, führt mich zu einem völlig neuen Therapieansatz. Die Erde braucht ihre Beben zum Spannungsabbau, ich als Epilepsie-Patient auch?

Ein Anfall ist im Grunde eine Entladung. Die Membranen der Nervenzellen stehen unter einer elektrischen Spannung, die durch entgegengesetzt geladene Ionen auf beiden Seiten der Membran entsteht. Auf ein Signal hin werden Kanäle geöffnet, es kommt durch den Ionenstrom zum Ladungsausgleich, die Spannung wird abgebaut. Dieser Vorgang läuft pausenlos im Gehirn ab. Bei einem epileptischen Anfall kommt es zu einer rhythmischen Entladung vieler Nervenzellen zur gleichen Zeit. Es wird innerhalb von kurzer Zeit eine große Ladung umgesetzt, viel Energie frei.

Das erinnert mich an eine Menschenmenge im Theater: Wenn Zuschauer begeistert von der Aufführung sind, steigt die Spannung jedes einzelnen immer mehr an, bis zum persönlichen Maximum. Die Gesamtenergie des Saals nimmt zu. Wenn der Vorhang fällt, fangen sie euphorisch an zu klatschen. Es ist dabei immer wieder auffällig, dass sich der anfangs individuelle Applaus sich zu einem rhythmischen Klatschen aufschaukelt, der eine viel stärkere Wirkung hat. Die Begeisterung eines Publikums wird durch die Darbietung gesteigert, die Spannung der Erde durch physikalische Kräfte. Und wie für die Erde, so ist es vielleicht auch für mein Gehirn notwendig, diese Spannungen zu entladen. Doch was könnte mein Gehirn dazu treiben, eine solche Spannung aufzubauen?

Dahlke ist der Meinung, dass alle Krankheitssymptome als Signale zu verstehen sind, die eine Botschaft übermitteln wollen. Magenschmerzen wollen mir mitteilen, dass ich ein Magengeschwür habe, Fieber bedeutet, dass Bakterien in meinen Körper eindringen. Der Anfall ist das Symptom einer Epilepsie. Aber was ist die Ursache für die Krankheiten? Dabei bin ich auf einen interessanten Ansatz gestoßen: Untersuchungen legen nahe, dass Krankheiten häufig durch Stress entstehen. Sie sind ein Zeichen für außergewöhnliche Belastungen, ein Grund für eine Auszeit.

Auf dieser Basis habe ich meine Anfälle analysiert. Und ich habe dabei wirklich festgestellt, dass ich im Stress vermehrt Anfälle habe, in Situationen, die mich unter Druck setzen. Kurz vor den Prüfungen, während des Praktikums in einer Firma, vor dem Ende eines wichtigen Projekts häufen sie sich bei mir, gerade dann, wenn sie am ungünstigsten kommen. Ich bin auf das wichtige Ziel fixiert, arbeite im Zeitmangel hart daran und unterdrücke dafür meine Wünsche und Bedürfnisse. Wenn ich mich charakterisieren soll, muss ich die fast fanatische Ordnungsliebe, ein sauberes Schriftbild, ein starker Perfektionismus und die Tendenz, meine Bedürfnisse etwas scheinbar wichtigerem zuliebe zurückzustellen, zugeben. Ich plane und organisiere gern und stelle an mich selbst hohe Anforderungen. In der Schule gehörte ich zu den Besten, dafür habe ich meine Freizeit eingeschränkt. Für die gute Note war mir alles andere egal. Ich neige dazu, mich selbst unter Druck zu setzen, mich zu fordern, um die erwünschte Bestleistung zu bringen, an der ich meinen Wert festmache.

Das kann sicherlich nicht ohne Folgen bleiben. Wünsche kann ich nicht einfach bei Bedarf ein- und ausschalten, sie sind immer vorhanden und werden stärker, je länger ich sie mir verwehre. Ein Anfall erscheint mir selbst oft wie ein Kampf meines Körpers. Zu einem Kampf gehören immer mindestens zwei rivalisierende Parteien. Beim Erdbeben sind es die beiden Kontinentalplatten, die sich aufeinander schieben. Bei meinen Anfällen kommt es mir vor, als seien es zwei gegeneinander kämpfende Verhaltenstendenzen. Die eine ist mein bewusster Wille, der auf das Ziel fixiert ist und dafür alles andere zurückdrängt und die andere sein Gegenspieler, mein Unterbewusstsein, das die vernachlässigten Bedürfnisse vertritt. Beide werden immer stärker, im stillen Kampf, es baut sich eine gewaltige Spannung auf. Irgendwann ist diese für meinen Körper unerträglich und sie entlädt sich als epileptischer Anfall. Daraus könnte ich folgern, dass dieser mehrere Funktionen hat. Erstens wird der Druck, den mein Wille auf den Körper ausgeübt hat, abgebaut, und zweitens zwingt er mich durch die energieverbrauchende Entladung, jedenfalls direkt nach dem Anfall, zum Ausruhen, zum Schlafen. Er ist praktisch die Notbremse. Mein Körper schreit mich an, dass ich eine Pause brauche. Wenn ich nicht reagiere, wird er sie sich mit einem neuen Anfall erzwingen müssen.

Aus dieser Betrachtungsweise kann ich die Konsequenz ziehen, dass ich versuchen sollte, Stress zu vermeiden, um die Anfallswahrscheinlichkeit zu verringern. Bevor sich mein Körper die Pause erzwingen muss, sollte ich sie freiwillig einlegen. Um zu verhindern, dass sich derartige Spannungen aufbauen, muss ich den Tendenzen, dem kleinen Drang nachgeben, bevor es ein größer wird. Vor allem Entspannung im wahrsten Sinne des Wortes spielt eine wichtige Rolle. Autogenes Training, Yoga, Progressive Muskelrelaxion, all dies könnte mir helfen, Spannungen abzubauen, wenn sie noch gering sind. Genauso sollte ich Gipfelerlebnisse, die ebenfalls eine Entladung großer Spannungen darstellen, bewusst herbeiführen. Starke Gefühlserlebnisse wie Rockkonzerte, der sexuelle Höhepunkt oder sportliche Betätigung kann ich somit als Therapie sehen. Das Bedürfnis, alles unter Kontrolle zu haben, macht Stress und Spannungen fast unausweichlich. Hier ist Umdenken angesagt, ich muss mich bewusst fallen lassen und akzeptieren, dass nicht alles im Leben beeinflussbar ist. Ich muss an meinem Wertsystem arbeiten und einsehen, dass Entspannung und Sport genauso wichtig für mich sind wie Erfolg und Lernen. Ich muss versuchen, meine Selbst-Wahrnehmung zu verbessern. Vielleicht kann ich auf diese Weise meine Anfallszahlen reduzieren und meine Lebensqualität heben.

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Quelle: Rüdiger Dahlke "Krankheit als Sprache der Seele", Goldmann 1997