120 Jahre Epilepsiezentrum

Vor dem Brunnenhaus, um 1925

Das Sächsische Epilepsiezentrum Radeberg-Kleinwachau feierte sein 120-jähriges Bestehen

In diesem Jahr feiert das Sächsische Epilepsiezentrum Radeberg sein 120-jähriges Bestehen. Das ist Anlass einen kurzen Abriss über die Geschichte der Einrichtung und ihre Entwicklung hin zu einem modernen Epilepsiezentrum zu geben.

Im Jahr 1887 beschloss der Landesverein der Inneren Mission Sachsen (heute Diakonisches Werk der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen), sich der „Epileptischen“ anzunehmen. Im damaligen Königreich Sachsen wurde etwa 15 km nordöstlich von Dresden in Liegau-Augustusbad, einem heutigen Radeberger Ortsteil, ein Grundstück mit einem kleinen Landhaus erworben, welches bereits der Vorbesitzer als „Kleinwachau“ bezeichnete. Am 27.11.1889 nahmen zwei Dresdner Diakonissen den ersten Pflegling in der „Anstalt für Epileptische“  auf, ein 16jähriges Mädchen aus Dresden.
 
Aus den Aufnahmebedingungen:

1: Die Anstalt für Epileptische “Klein-Wachau” bei Radeberg, welche ihr Entstehen dem Landesverein für Innere Mission verdankt, hat den Zweck, epileptische Kinder in
leibliche und geistige Pflege zu nehmen und sie womöglich zu heilen.
2: Bei der Aufnahme können zunächst nur Kinder aus dem Königreich Sachsen berücksichtigt werden.
5: Der Pflegesatz beträgt bei Kindern bis zum 12. Jahre 60 Pfennige, vom 12. Jahre an 1 Mark täglich.
9: Vierteljährlich bekommen die Angehörigen eines Pfleglings von der vorstehenden
Diakonisse Nachricht über dessen Befinden.
Dresden, den 3.10.1889                         Der Vorstand

Der Bedarf war groß, so dass die Platzkapazität 1910 bereits 110 Betten betrug. Wie damals üblich, lebten in jedem Haus die Pfleglinge gemeinsam mit Hausmutter oder Hausvater in familienähnlichen Gemeinschaften. Zweck war es, den epilepsiekranken Menschen vor allem eine gute Pflege und ein Gefühl der Heimat zu geben. Die Pfleglinge übernahmen im Rahmen ihrer Möglichkeiten häusliche Pflichten, aber auch produktive Tätigkeiten. Erzeugnisse aus eigener Landwirtschaft und Viehhaltung trugen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bei und gaben den Bewohnern das Gefühl, gebraucht zu werden.

Die damaligen Kenntnisse über Ursachen und Behandlung von Epilepsie waren noch sehr begrenzt, erste Medikamente (Kaliumbromid) wurden zur Verhinderung von Anfällen eingesetzt. Die ärztliche Versorgung übernahm ein Arzt des Radeberger Krankenhauses. Die Anfallshäufigkeit der Patienten wurde dokumentiert. 1927 nahm der erste Arzt für Kleinwachau seine Tätigkeit auf mit dem Ziel, die „Bewahrungsanstalt“ in eine „Heil- und Pflegeanstalt“ umzuwandeln. Die tägliche Arbeit der Mitarbeiter war von christlicher Nächstenliebe geprägt und bewirkte eine ständige Vergrößerung und Weiterentwicklung der Einrichtung.

Von der schlimmen Zeit des Nationalsozialismus 1933 – 1945 blieben auch Kleinwachaus Bewohner nicht verschont. "Fallsucht" wurde von Ärzten in dieser Zeit als Erbkrankheit angesehen. Am 1.1.1934 trat das von der Reichsregierung beschlossene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in Kraft. Es erlaubte u. a. die Zwangssterilisierung von Menschen mit „erblicher Fallsucht“. Der beginnenden Euthanasie versuchte die Innere Mission entgegenzuwirken, indem sie Patienten von Heim zu Heim verlegen ließ in der Hoffnung, drohende Deportationen zu verhindern. Doch das Leben von über 100 Bewohnern Kleinwachaus konnte nicht gerettet werden. Als Opfer der Euthanasie wurden sie zwischen 1940-1943 in der Tötungsanstalt Pirna Sonnenstein oder in der Heil- und Pflegeanstalt Großschweidnitz ermordet. 51 Bewohner konnten durch Verlegung an andere Orte gerettet werden.

Kleinwachau im Herbst 2008

Das „Mahnmal für die Opfer der Euthanasie von 1940-1943“ der Dresdner Bildhauerin Una Klose und eine Gedenktafel halten die Erinnerung an die ermordeten Menschen wach.
Kleinwachau war von 1943 bis zum Ende des Krieges von den Nationalsozialisten besetzt worden. Zum Kriegsende durfte eine kleine Gruppe nach Kleinwachau zurückkehren, das geplündert und mit zerstörter Inneneinrichtung der Häuser vorgefunden wurde.
Nach Auseinandersetzungen über die zukünftige Nutzung zog Ende 1946 die Rote Armee ab, der Wiederaufbau begann. Bereits 1949 wurde Kleinwachau als “eine gut ausgestattete, hygienisch und sanitär einwandfreie Krankenanstalt” bezeichnet.
Seit Herbst 1950 gab wieder eine Sonderschule. Eine Anerkennung als Einrichtung des Gesundheitswesens wurde jedoch abgelehnt. Durch umfangreiche Baumaßnahmen verbesserten sich die Wohn- und Lebensbedingungen der Bewohner ständig. Gezielte Fördergruppenarbeit begann und bisherige Beschäftigungen der Bewohner erfuhren eine Umstrukturierung zur ärztlich verordneten Arbeitstherapie. Nicht zuletzt durch die Partnerschaft zum Epilepsiezentrum Kork wurden Ideen des Forderns und Förderns von Menschen mit Behinderungen entsprechend ihrer vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten auch in Kleinwachau entwickelt und umgesetzt.
Seit 1972 waren ein Pfarrer und auch wieder ein Arzt in Kleinwachau fest angestellt. Bis zur Wende ermöglichte die ständige ärztliche Präsenz eine Behandlung epilepsiekranker Menschen in sehr bescheidenem Rahmen.
Nach 1989 änderte sich das Konzept der Betreuung von Menschen mit Behinderungen grundlegend. Im Bereich Behindertenhilfe wurden neue, moderne Konzepte erarbeitet. In der anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen stehen heute über 200 Arbeitsplätze in verschiedenen Gewerken zur Verfügung für Menschen mit Behinderungen, wenn sie aufgrund ihrer Behinderungen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt den Konkurrenzbedingungen nicht standhalten können.
In den modernen Räumen der Förderschule für Kinder und Jugendliche mit einer geistigen Behinderung lernen in 9 Klassen etwa 65 Schülerinnen und Schüler aus der Wohnstätte und aus der Umgebung sowie im Rahmen der Krankenhausschule.
Damit Menschen mit Behinderungen größtmögliche Selbstständigkeit und Selbstbestimmung verwirklichen können, werden derzeit 210 Plätze in differenzierten Wohnmöglichkeiten für Menschen mit Epilepsie und unterschiedlichem Hilfebedarf angeboten. Entsprechend der individuellen Bedürfnisse und mit dem Anspruch eines möglichst selbstbestimmten Lebens wird die Betreuung „rund um die Uhr“, in Außenwohngruppen und durch „Ambulant betreute Angebote“ in eigenen Wohnungen in der Umgebung und in Dresden umgesetzt.
1991 erfuhr die Krankenstation ihre Anerkennung als Fachkrankenhaus für Neurologie und ist mit seinen stationären und ambulanten Behandlungsangeboten sowie der psychosozialen Epilepsieberatungsstelle als Kompetenzzentrum weit über die regionalen Grenzen bekannt geworden. Der stationäre Bereich verfügt über 45 Betten auf einer Kinder- und Jugendstation, zwei Erwachsenenstationen und einer Station für Intensivmonitoring und prächirurgische Diagnostik.
Die stationären Behandlungsschwerpunkte gliedern sich in die Schwerpunkte allgemeine Epileptologie, epilepsiechirurgisches Programm, Epileptologie bei komplexen Behinderungen, Intensivmonitoring, Kinder- und Jugendepileptologie sowie Psychosomatische Epileptologie
Eine ambulante Behandlung von Kindern und Erwachsenen mit Anfallserkrankungen ist in unseren Klinik-Ambulanzen möglich.
Komplettiert wird das Behandlungsangebot seit diesem Jahr durch die Gründung eines Medizinischen Versorgungszentrums in der Landeshauptstadt Dresden mit Schwerpunkten Epileptologie, psychosomatische Störungen bei Epilepsie und Psychotherapie für Menschen mit Epilepsie.
Heute leben und arbeiten im Sächsischen Epilepsiezentrum Radeberg – Kleinwachau gemeinnützige GmbH über 600 Menschen.
Aus der „Anstalt für Epileptische“ ist eine moderne gemeinnützige diakonische Einrichtung hervorgegangen, in der auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes Patienten aus dem gesamten südostdeutschen Raum behandelt werden und gehört damit zu den wenigen Grad-IV Zentren in Deutschland mit überregionaler Bedeutung.


Maria Lippold, Silke Teuerle
Kleinwachau


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Titel: Vor dem Brunnenhaus, um 1925


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Titel: Kleinwachau im Herbst 2008