Zehn Jahre anfallsfreie Zeit

- zurück auf dem Boden der Tatsachen

Mit meiner Epilepsie lebe ich jetzt schon 45 Jahre und habe mich mit ihr „angefreundet“. Als Kind litt ich aufgrund der Überbehütung meiner Mutter sehr darunter, aber mit den Jahren habe ich – auch durch das Verständnis meines Mannes – gelernt, die Krankheit anzunehmen und zu akzeptieren.

Mein Leben war bis zu meinem 47. Geburtstag mit Grand-Mals, psychomotorischen Anfällen und Absencen durchzogen. Meine Medikamente nahm ich immer regelmäßig ein, machte aber vieles, was nicht erlaubt war, wie z. B. alleine Radfahren, schwimmen, Disco Besuche und genehmigte mir auch ab und zu mal ein Gläschen Wein oder Bier.

Ab meinem 47. Geburtstag bemerkten mein Mann und ich, dass sich die großen Anfälle nicht mehr einstellten, die Absencen jedoch blieben. Mit den beginnenden Wechseljahren gingen auch diese zurück und die psychomotorischen Anfälle blieben ebenfalls fast weg. Das Ausschleichen zweier Medikamente in den letzten beiden Jahren überstand ich auch sehr gut.

In der Zwischenzeit hatten wir uns einen Hund (Beagle) zugelegt, mit dem wir auf Ausstellungen sehr große Erfolge einfahren – so auch zu unserer großen Freude im August 2011 in Wien. Eigentlich alles in bester Ordnung, nur die Hitze war mörderisch, setzte mir sehr zu und ich bekam starke Kopfschmerzen bei einem Ausflug. Nach einer kurzen Erholung im klimatisierten Hotelzimmer, nahm ich vor dem Abendessen meine Abendtabletten und richtete mir meine Pillen-Dosette für den nächsten Tag her. Da bemerkte ich, dass am Mittag eine Tablette zu wenig eingerichtet war. Bei mir brach Panik aus! Ich hatte meine Keppra vergessen! Ich dachte, ich hätte diese Tablette schon die letzten zwei Tage nicht genommen (was sich im Nachhinein als falsch herausstellte), war total durch den Wind, steigerte mich immer weiter in meinen Irrglauben hinein und dann passierte es! Ich fiel um wie ein Brett, erzählte mir später mein Mann. Da war er also wieder, ein Grand-Mal mit allem, was dazugehört wie Zungenbiss, einnässen, einer blutenden Verletzung an der Wange durch den Bruch meiner Brille und ein wenig Nasenbluten.

Nachdem ich nach ca. zwei bis drei Minuten ausgekrampft hatte und wieder einigermaßen ruhig wurde, verfrachtete mein Mann mich ins Bett. Danach versuchte er, die Rückstände des Anfalls mit Küchenrollen und Toilettenpapier zu entfernen, hatte aber auch alle Hände voll mit mir zu tun, da ich die ganze Zeit immer aufstehen wollte. Als ich nach ca. einer ¾ Stunde wieder richtig ansprechbar war und mein Mann mir alles erzählte, war ich total fertig und am Boden zerstört. Es war doch zehn Jahre lang alles mehr oder weniger in Ordnung. Jetzt das! Ich war also wieder mit Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden. Es durfte nicht wahr sein! Sollte alles wieder von vorne beginnen?!

Zur Sicherheit machten wir uns auf dem Weg ins „Donau-Spital“, dort ist eine neurologische Abteilung mit Ambulanz. Nach einem neurologischen Test, einer detaillierten Anfallsschilderung und der Epilepsie-Vorgeschichte gab es eine Blutabnahme, die laut den drei behandelnden Ärztinnen nötig war, um eine Unterzuckerung auszuschließen. Auch meine vergessene Mittagstablette bekam ich sofort zum Einnehmen und gleich fünf weitere für die nächsten Tage. Im nachfolgenden Gespräch mit den Ärztinnen (sie diskutierten den Fall auch ausgiebig untereinander) erfuhren wir nach längerem Für und Wider, was meinen Anfall ausgelöst haben könnte. Sie meinten, die starke Hitze vom Vormittag, das fehlende Medikament (da ich sehr niedrig, aber optimal eingestellt bin) und meine wahnsinnige Aufregung könnten dazu beigetragen haben, dass wieder ein großer Anfall kam.

Dann wurde zu meiner großen Überraschung eine CT-Untersuchung des Kopfes angeordnet, um ein Blutgerinnsel nach dem Sturz auszuschließen – zum Glück war das CT in Ordnung und ohne Befund und auch beim großen Blutbild war alles okay. Nach Übergabe des fein sauber geschriebenen Arztbriefes für daheim fuhren wir 4 Stunden später zurück ins Hotel.

Am nächsten Morgen wachte ich mit Kopfschmerzen, einer Beule, einem blauen Fleck auf der Stirn und mit Schmerzen in der Zunge auf. Ich fühlte mich wie gerädert. Beim Auschecken sagte ich dann an der Rezeption Bescheid, was mir am Abend zuvor zugestoßen war und dass die Wäsche etwas abbekommen hatte. Mir war es sehr peinlich, aber ich erlebte eine große Überraschung:

Die junge Dame an der Rezeption nahm das ganz gelassen hin und meinte nur „Das braucht ihnen überhaupt nicht peinlich zu sein. Ich kenne das. Ich hatte meinen ersten Anfall mit vier Jahren im Kindergarten und das ist jetzt 15 Jahre her.“ Nach dieser Aussage war ich beruhigt und auch überrascht, auf so eine Weise eine „Gleichgesinnte“, die so offen spricht, kennengelernt zu haben.

Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile über Epilepsie und stellten fest, dass uns die junge Dame das Gleiche bestätigte, was wir immer in der Selbsthilfegruppe predigen: Epilepsie braucht noch viel mehr Aufklärung. Die Stigmatisierung soll endlich weniger werden. Die Bevölkerung weiß immer noch zu wenig über diese Krankheit.

Zuhause hatte ich zwei herrlich blaue Augen, die sich im Laufe der Woche in alle Schattierungen verfärbten, aber nach einer Woche war fast alles wieder normal. Nur ein neuer Brillenrahmen, geprellte Rippen (die sich erst daheim bemerkbar machten), ein großes seelisches Loch und die Gewissheit, dass meine Epilepsie mit den Wechseljahren nicht ganz vorbei ist, erinnerten mich noch an den Anfall.

Meine Hoffnung ist nun, dass das unglückliche Zusammentreffen der drei Faktoren – Hitze, vergessene Tablette und Aufregung – der Auslöser meines Grand-Mal war.

Angelika Kilger, Deggendorf