Tatort Epilepsie

Axel Milberg als Klaus Borowski und Sibel Kekilli als Sarah Brandt

Drehbuchautor Sascha Arango

Eine S-Bahn rast durch den Flur des Kieler Polizeireviers direkt auf den Zuschauer zu - Blende - die Kommissarin Sarah Brandt liegt bewusstlos in den Armen ihres entsetzten Kollegen - Blende - sie erwacht nach einer halben Sunde in einem abgeschlossenen Raum, beobachtet von ihrem Kollegen Borowski, der wissen will, was da eben passiert ist.

Ein epileptischer Anfall mit einer optischen Aura, das wissen die Experten unter uns sofort. Für Borowski ist diese Enthüllung ein Schock, sie stürzt ihn in ein tiefes moralisches Dilemma. Einerseits weiß er, Sarah Brandt dürfte nicht mehr Autofahren, nicht mehr Dienst mit der Waffe leisten, weiß er um die Gefahr, die auf ihn, sie und andere Menschen beim nächsten Anfall lauert. Andererseits ist da die Loyalität zu seiner Partnerin, das mit der Zeit entwickelte Vertrauen zueinander, all das möchte er nicht gefährden. Soll er sie bei seinem Chef melden oder geht er das Risiko ein, dass sie beim nächsten Anfall im Auto oder mit der Waffe Unheil anrichtet?

Auch für Sarah Brandt ist die Situation nicht einfach. Ihr Beruf ist ihr Lebensinhalt, ihr „Ein und Alles“. Und das soll sie nun aufgeben? Für einige Momente außer Kontrolle, die so schnell wieder vorbei sind? Niemals! Natürlich ist ihr Verhalten nicht das besonnene, vernünftige, verantwortungsbewusste Handeln, das man erwarten möchte, das als Vorbild für alle anderen Betroffenen dienen könnte. Aber ist nicht auch die Krankheitsverarbeitung, das Akzeptieren der eigenen Grenzen ein Prozess? Ist ein Film, eine Fiktion, genau das, was wir in der Realität erleben? Und kann nicht auch die Verleugnung der Krankheit genau das sein, was in der Realität immer wieder stattfindet?

Sascha Arango, der Drehbuchautor der Tatortfolge „Borowski und der stille Gast“, hatte selber epileptische Anfälle. Anderthalb Jahre nach einem schweren Schädel-Hirntrauma, das er sich beim Fällen eines Baumes zuzog, kamen die ersten epileptischen Anfälle. Einige mit Aura, andere ohne Vorboten und manche mit dem plötzlichen, tiefen, unerschütterlichen, nicht erklärbaren Wissen „gleich kommt wieder ein Anfall“.

Wir hatten die Gelegenheit, uns mit dem zweifachen Grimme-Preisträger in einem Berliner Hotel über Film und Realität und über seine Anfälle zu unterhalten.

Für Arango war die Epilepsie nie eine Krankheit, er sagt: „Ich habe Epilepsie nicht als Erkrankung wahrgenommen, sondern als Folge einer Verletzung, eine natürliche Auswirkung auf die Einwirkung mechanischer Gewalt auf mein Gehirn.“ - „Dafür kann ich nichts, das ist einfach so!“ - „Wenn man es nicht so wichtig nimmt, dann ist das schnell gegessen.“ - „ Ich hatte ja auch nicht so viele Anfälle“. Natürlich sei es ihm nicht leicht gefallen, eine Zeitlang auf sein Auto zu verzichten, auch die Nebenwirkungen der Medikamente, einmal ein furchtbarer Ausschlag am ganzen Körper, dann eine „exponentielle“ Gewichtszunahme, habe ihm zu schaffen gemacht. Aber im Vergleich zu den Schwierigkeiten, die das schwere Schädel-Hirn-Trauma noch mit sich brachte, sei die Epilepsie sein geringstes Problem gewesen.

Arango gab sich damals mit der Behandlung durch den Neurologen nicht zufrieden und suchte nach mehr Informationen. Im Telefonbuch fand er die Adresse von Professor Dieter Janz und machte einen Termin: „Herr Janz hat sich eine Stunde mit mir unterhalten und ich war so zufrieden, nachdem Herr Janz mir so wunderbar erklärt hat, was es ist und wo es herkommt. Und ich wusste damals ja gar nicht, was für eine Koryphäe dieser Mann ist. Das habe ich erst später erfahren!“ Unter anderem die Auren, die Arangos Anfälle manchmal ankündigten, seien für Janz von großem Interesse gewesen: „Ich erinnere mich an einen kurzen Moment, dass Janz sich vorbeugte, als ich sagte: Ich habe nicht jedes mal die Aura, aber einmal hatte ich das tiefe Wissen, ganz plötzlich, jetzt wird es passieren, ich hörte nichts, sah nichts. Und das war für Janz sehr interessant“. Wie diese Situation damals ausging, schildert er uns mit folgenden Worten: „ Ich habe dann falsch gehandelt und bin voll auf das Gesicht geknallt, weil ich mich geschämt habe, mich auf die Straße zu legen. Mein Sohn, damals vielleicht drei Jahre alt, saß auf dem Kindersitz im Auto, die Chefin von Sat 1 war vor mir. Ich bin dann im Krankenhaus wieder wach geworden. Abends war ich wieder richtig fit und es gibt ein wunderbares Foto von meinem Bruder und mir: Er hatte sich am selben Tag einen Zahn ausgeschlagen und ich ein blaues Auge. Und so lädiert strahlten wir dann gemeinsam in die Kamera.“

Besonders das Erwachen nach einem Grand mal-Anfall schildert Arango als eine unglaubliche Erfahrung: „Man kommt zurück wie aus einer vollkommen anderen Welt, es ist nicht wie aus dem Schlaf aufwachen, sondern man erwacht aus einem absoluten Unwissen, was vorgefallen ist, wo man ist und was ist. Ich sah immer wahnsinnig nette, lächelnde Menschen um mich herum, die ich noch nie gesehen hatte. Eine unglaublich schöne Erfahrung! Es ist wie ein Zusammensetzen des Ichs, der Erinnerung: Eben sitz ich mit dir hier und plötzlich ist ein Engel neben mir, guckt mich an, redet mit mir und ich? Was will der? Wo bin ich hier? Was ist passiert? Ach ja … da war was …. Ein Anfall?! Es dauerte immer eine Weile, bis ich wusste, was passiert ist. Dieses Erwachen ist ein so singuläres Ereignis ähnlich wie ein Fallschirmsprung, wie von den Toten zurückkommen, das kann man nicht beschreiben.“ Die Phase nach dem Anfall, in der Arango sich schon wieder unterhalten konnte, agieren und reagieren konnte, ist in seiner Erinnerung immer sehr lückenhaft: „Ich erinnerte mich immer an das, was vorher war, aber das danach, das war weg. Du wirkst völlig normal, wirst aber die nächsten Stunden, die Du erlebst, vollständig vergessen. Und das ist etwas, das muss man bei Menschen mit Epilepsie berücksichtigen.“

Bei aller Forschheit und aller Selbstverständlichkeit mit der Arango seine Epilepsie betrachtet, eine Angst ist ihm geblieben: Die Angst in trübem Wasser zu schwimmen und unterzugehen. Zur Angst an sich hat er seine eigene Meinung: „Angst ist eine natürliche Fähigkeit, aber keine Tugend. Angst muss eingegrenzt werden. Viele erheben ihre Ängste zur Tugend und lassen sich dafür bemitleiden und bewundern. Das ist nicht mein Weg. Angst ist ein guter Begleiter, wenn sie nicht vor uns geht, sondern neben uns oder hinter uns.“

Wie man in anderen Ecken dieser Welt mit Angst umgeht, hat der Sohn eines kolumbianischen Vaters und einer deutschen Mutter in seiner Zeit in Kolumbien erlebt. Die Leute dort hätten keine Angst mehr vor den Dingen, die uns hier in Deutschland soviel Angst machen, denn sie sähen sich mit anderen, weitaus elementareren Problemen konfrontiert. Für sie sei Verletzung, Tod, Sterben etwas ganz Alltägliches, es gehöre mit zum Leben dazu. Ein paar Anfälle? „So what, das ist nichts Dramatisches in einem Land, in dem an einem Tag fast 200 Menschen ohne Grund ermordet werden, wo viele nicht wissen, wie sie an die nächste Mahlzeit kommen.“

Sehr erstaunt reagiert Arango auf unsere Erfahrungen mit Vorurteilen gegenüber Epilepsie. Dass man Epilepsie mit geistiger Behinderung gleichsetzt, dass der Kontrollverlust im Anfall auch bei Beobachtern Urängste stimuliert, sie könnten ebenso die Kontrolle verlieren, dass man deshalb Menschen ausgrenzt, hat er selber nicht erlebt. Diese Betrachtungsweise ist ihm völlig fremd, wohl auch, weil er keine anderen Menschen mit Epilepsie kennt.

Die Idee, das Thema Epilepsie im Kieler Tatort aufzugreifen, kam von ihm und er rannte bei der Redaktion des Tatorts nach eigener Aussage „offene Türen“ ein. Natürlich zog die Redaktion noch einen medizinischen Berater, den Epileptologen Dr. Stodieck aus Hamburg, hinzu, um Arangos Schilderungen auf grobe medizinische Fehler zu überprüfen. Die Redaktion bestand auch darauf, dass eine Szene eingebaut wird, in der Epilepsie erklärt wird. Für diese Szene nutzte Arango seine Erfahrungen aus dem Gespräch mit Professor Janz.

Die Aufklärung über Epilepsie, die der Pathologe im Film Kommissar Borowski gibt, ist eng an dieses Gespräch angelehnt. Aber - die Aussage des Pathologen „Epileptiker werden nicht alt“ ist reine Effekthascherei, lediglich ein Mittel, Spannung zu erzeugen. Auch wenn nach Arangos eigener Aussage der Kieler Tatort den Anspruch habe, reale Polizeiarbeit zu simulieren, so sei jeder Film, jedes Fernsehspiel immer auch Fiktion. Die Wirklichkeit nachzubilden, hundertprozentige Realität sicherzustellen, sei nicht das Hauptziel eines Krimis. O-Ton Arango: „ Wenn ich einen Film mit Feuerwehrleuten mache, sind alle hochzufrieden, nur die Feuerwehrleute nicht.“

Susanne Fey, Wuppertal