Vollbremsung - mitten auf der Strecke

S. B. an ihrem Arbeitsplatz

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich mit meinem vollen Namen in diesem Artikel erscheinen möchte – und schließlich gedacht: Ja, sonst macht das alles keinen Sinn. Ich arbeite als Redakteurin bei einer Tageszeitung in einer baden-württembergischen Großstadt. Die meisten meiner Kollegen und mein direkter Vorgesetzter wissen über meine Krankheit, so wie ich bei anderen Kollegen über ihren Diabetes, ihre Allergien oder ein anderes gesundheitliches Problem weiß. Diese Offenheit ist mir einfach sicherer, falls ich einen Anfall bei der Arbeit bekomme. Was gottlob noch nicht passiert ist.
Meinen ersten „Grand mal“ hatte ich im Alter von 35 Jahren, im Juni 2006, das werde ich nie vergessen. Er kam im wortwörtlichen Sinne aus heiterem Himmel, als ich am Tag vor dem Feiertag „Christi Himmelfahrt“ auf dem Balkon saß. Mein Lebensgefährte schlief noch, ich las Zeitung. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann ist, wie ich auf dem Gästebett in meinem Arbeitszimmer aufgewacht bin, völlig zerschlagen. Beim Blick in den Badezimmerspiegel sah ich meine blutunterlaufenen Augen, bemerkte, dass ich mir auf die Zunge gebissen und mich eingenässt hatte – das volle Programm also. Mein Kopf dröhnte und ich weckte meinen Liebsten, der mich sofort zum Arzt schleppte, von wo aus ich ins Krankenhaus kam. Dort passierte erst mal zwei Tage lang gar nichts. Drei Tage später wurde ich ans EEG angeschlossen und man diagnostizierte – wie auch immer – Epilepsie. Mit dieser Diagnose und einer Anfangseinstellung auf Lamotrigin wurde ich nach Hause entlassen. Beim Hausarzt erfolgte die Überweisung zum Neurologen. Dort die weiteren Untersuchungen und die Eröffnung, dass ich jetzt schnellstmöglich in die „Röhre“ müsse, es könne ja schließlich ein Hirntumor die Ursache für die Epilepsie sein. An die nächsten Wochen kann ich mich fast nicht mehr erinnern. Lange Rede kurzer Sinn: Es ist kein Hirntumor festgestellt worden, auch sonst ist in meinem Gehirn nichts Auffälliges zu sehen gewesen.
Im Laufe der Zeit stellte sich durch die Medikamenteneinnahme heraus, dass ich schon länger an Epilepsie leide. Ich habe, seit ich 15 Jahre alt war, in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen kleine Anfälle gehabt, die nie als Epilepsie erkannt worden sind. Auch hier weiß ich noch genau, wie der erste „Petit mal“ ablief: Ich war bei meiner französischen Austauschschülerin Valerie in Paris. Es war furchtbar heiß und ich hatte das Gefühl, zu ersticken und das mein Herzschlag den Brustkorb sprengt. Zum Arzt bin ich deshalb nicht gegangen – das ist in meiner Familie ohnehin nicht besonders verbreitet.
Bei Hausarztbesuchen in meinen jeweiligen Wohnstädten – Studium in Tübingen, Volontariat in Kassel – habe ich durchaus dieses „Herzrasen“ erwähnt, es ist nur nie jemand auf Epilepsie gekommen. Dass diese seltsamen Sinnesempfindungen seit meiner Jugend und meine im Erwachsenenalter ausgebrochene Krankheit etwas miteinander zu tun haben, zeigte sich erst während der jahrelangen Medikamenteneinnahme und der Veränderungen, die dadurch beim „Herzrasen“ eintraten.
Mein Leben hat sich durch die Epilepsie und den Lernprozess, mit dieser Krankheit umzugehen, grundlegend geändert. Manchmal vergleiche ich das mit einer Vollbremsung mitten auf der Strecke. Viele Menschen haben diese Krisen, nachdem bei ihnen eine Krankheit diagnostiziert wurde, und Epilepsie ist ja wenigstens in den meisten Fällen gut medikamentös behandelbar und nicht tödlich. Während einer Psychotherapie habe ich in langer Arbeit meine Einstellung zu vielen Dingen in meinem Leben geändert. Zuerst war da die Wut, das Hadern und die Frage „Warum ich, warum jetzt?“ und eine Depression, die ausgebrochen ist. Ich wollte es in gewisser Weise auch allen zeigen, dass ich trotz der Krankheit fit und belastbar bin und habe mich überfordert bis zum Burn-out. Dann kam auch ein zweiter Grand mal-Anfall im März 2008. Und jedes Mal die Fahrverbote, mal ein halbes Jahr, mal ein ganzes Jahr. Zum Glück kann ich meinen Beruf ausüben, ohne auf das Auto angewiesen zu sein. So wurde ich zur rasenden Reporterin mit Fahrradhelm, die leider auch mal verschwitzt bei einem Termin erschienen ist.
Ich habe gelernt, aus allem das Beste herauszuholen. Mich zurückzunehmen, abzugrenzen und „nein“ zu sagen. Ich habe Freunde und Familie, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Mit allen Gedächtnisproblemen, mit den kleinen Aussetzern und der Gefahr des großen Anfalls, die immer überall mitschwingt. Ich muss täglich zu zwei festgelegten Zeiten meine Tabletten nehmen und verzichte weitestgehend auf Alkohol. Gehe meistens früh genug ins Bett und ernähre mich vernünftig. Stelle mich alle Vierteljahre beim Neurologen vor und lasse einmal im Jahr meine Blutwerte beim Hausarzt checken. 
Ich hätte mir gerade am Anfang meiner Krankheitsphase mehr Beratung und Unterstützung gewünscht. In gewisser Weise bin ich froh, dass meine Epilepsie erst so spät diagnostiziert wurde. Wenn ich schon als Jugendliche gewusst hätte, dass ich an dieser Krankheit leide, hätte ich sicher vieles nicht gemacht und nicht gewagt – wie weite Reisen, anstrengende Praktika beim Fernsehen oder in New York, der Stadt, die wirklich niemals schläft. So war ich in meinem Beruf - der seit ich denken kann, mein Traumberuf gewesen ist - schon „angekommen“ und kann mit den Einschränkungen durch die Krankheit ganz gut leben. 

S. B.