Mein Weg mit Epilepsie

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In loser Reihenfolge stellen wir immer wieder Betroffene vor, die uns ihren ganz eigenen Weg mit der Erkrankung schildern und uns zeigen, wie sie ihr Leben mit Epilepsie bewältigen.

 

Hier die Geschichte von Marie, 26 Jahre, die seit ihrer Geburt an Epilepsie erkrankt ist, erzählt von ihrer Mutter Sandra Stenger, 53 Jahre, alleinerziehend bzw. seit 22 Jahren geschieden:

 

Diagnose

 

Art und Häufigkeit

Grand mal-Anfälle, atonische Anfälle (Sturzanfälle), Absencen = generalisierte und fokale Anfälle sowie Auren.

 

Die ersten Jahre haben wir gar nicht geschlafen, da sie jede Nacht mehrmals Anfälle bekam. Später kamen dann Anfälle in der Aufwachphase oder am Tag dazu. Also hatten wir nachts und am Tag damit zu kämpfen. Die Anfallsarten wechselten sich immer wieder ab. Vier Jahre war Marie schon einmal ohne Medikation und anfallsfrei. Leider ging es danach wieder täglich los.

 

Erster Anfall

Eigentlich schon seit der Geburt, gesicherte Diagnose über 1,5 Jahre später.

 

Behandlung

Mit drei Monaten bekam Marie ihr erstes EEG. Es war damals schon auffällig, aber die Ärzte meinten, das wäre noch normal und verwächst sich. Noch kein Wort über Epilepsie. Ich vertraute den Ärzten und dachte: Okay, warten wir mal ab!

 

Aber es wurde immer schlimmer. Jede Nacht mehrmals zuckte und krampfte mein Kind, war nicht ansprechbar und verdrehte die Augen. Und ich wusste nicht, was mit ihr los war.

 

Es folgte eine Odyssee von Arzt zu Arzt. Bis endlich nach über 1,5 Jahren einer erkannte, dass Marie Epilepsie hat. Hätte ich das schon früher gewusst, hätten wir meiner Tochter vielleicht so einiges ersparen können.

 

Es wurden verschiedene Medikamente ausprobiert. Manchmal ließ die Wirkung nach und wir mussten wieder umstellen. Anfangs einmal im Jahr zum MRT und alle drei Monate zur EEG-Kontrolle, zwischendrin 24-Std.-EEG, Langzeit-EEG, Schlafentzugs-EEG, Blutentnahmen und viele Krankenhausaufenthalte über Wochen.

 

Wie war das in der Schulzeit? Wussten die Mitschüler und Lehrer von der Epilepsie oder haben Sie die Krankheit verheimlicht?

Wir sind immer offen damit umgegangen und haben es jenen erzählt, die es wissen mussten. Im Kindergarten sowie später in der Schule wurden alle informiert. Wir haben auch einen Elternabend veranstaltet mit Infomaterial, um über Epilepsie aufzuklären. Verheimlichen kam für mich nie in Frage. Denn ich kann nicht von anderen erwarten, dass sie Verständnis dafür haben und selber darüber schweigen. Wir wollten damit auch Vorurteile aus der Welt schaffen.

 

Haben die Anfälle Maries Kindheit in irgendeiner Form eingeschränkt?

Die Epilepsie hat unser ganzes Leben bestimmt. Und meine Tochter in vielen Dingen eingeschränkt – egal ob bei Freizeitaktivitäten, beim Kinderturnen, auf dem Spielplatz, beim Schwimmen, Radfahren usw.

 

Was für andere Kinder normal war, z.B. alleine eine Rutsche hochklettern, war für Marie nicht möglich, ohne dass ich dahinter stand. Sie war gefühlt irgendwie immer unter Aufsicht. Für meine Tochter war das damals noch normal, sie kannte es nicht anders. Aber je älter sie wurde desto bewusster wurden ihr die Einschränkungen.

 

Andere Kinder waren alleine mit dem Fahrrad unterwegs oder gingen alleine ins Schwimmbad. Das war bei ihr nicht möglich. Und welche „Freunde“ haben schon gerne eine Mutter als Aufpasser dabei? Das schreckte doch etwas ab und sie unternahmen dann lieber etwas ohne Marie.

 

Es gab aber auch Eltern, die nicht wollten, dass Marie mitgeht. Sie wollten ihren Kindern den Anblick ersparen, falls ein Anfall kommt. Ja, echt schockierend. Viele Eltern hatten Angst oder sollte man eher sagen „Respekt“ davor, Marie zu sich nach Hause einzuladen, sie wollten die Verantwortung nicht tragen. Zu groß war die Angst, dass irgendetwas passiert.

 

Was ich eigentlich auch verstehen kann. Ich wüsste selber nicht, ob ich das gekonnt hätte. Und man muss sich die Frage stellen: Hätte ich diese Verantwortung übernommen, wenn ich noch nie mit Epilepsie zu tun gehabt hätte? Jetzt als Betroffene, klar kein Problem.

 

Marie hat noch einen zwei Jahre jüngeren Bruder. Am Anfang musste er schon sehr oft auf mich verzichten, da wir meist wochenlang im Krankenhaus waren. Aber dann musste ich mich um beide intensiv kümmern, da auch ihr Bruder Epilepsie und danach noch schweres Asthma bekam.

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Es kam auch schon vor, dass ich mit beiden gleichzeitig im Krankenhaus war. Sie haben es dann jedoch „clever“ gelöst und sich immer Jahr für Jahr abgewechselt, was Krankenhausaufenthalte betraf.

 

Aber ich musste mich schon mehr auf meine Tochter konzentrieren, und muss es heute auch noch. Mein Sohn ist mittlerweile gesund und geht seinen eigenen Weg.

 

Wie war das mit Übernachten bei Freunden? Waren Klassenfahrten und Ausflüge ein Problem oder konnte Ihre Tochter immer überall mitfahren?

Übernachten bei Freunden war immer sehr schwierig, da Marie meistens die Anfälle nachts oder in der Aufwachphase hatte (später auch am Tag). Es war eigentlich immer so, dass die Freunde bei uns übernachtet haben.

 

Ausflüge mit der Schule waren kein Problem – auch für mich als Mutter nicht. Die Lehrer gingen damit immer recht gut um. Die Ausflugsziele waren auch nicht zu weit von uns entfernt, so dass ich sie jederzeit hätte abholen können.

 

Ich wollte immer, dass Marie so normal wie möglich am Leben teilnimmt.

 

Hat die Erkrankung die Schulwahl beeinflusst?

Ja, schon sehr stark. Anfangs von der 1. bis zur 5. Klasse ging sie auf eine Schule mit Integration. Dies klappte eigentlich ganz gut. Na ja, ein paar Eltern haben sich darüber beschwert, dass ein Integrationskind in der Klasse ihrer Kinder ist. Sie meinten, dass es ihre Kinder am Lernen hindert.

 

Nach der 5. Klasse musste Marie auf eine Schule für Körperbehinderte wechseln, da ihre Epilepsie so schlimm wurde, dass sie nicht mehr am „normalen“ Unterricht teilnehmen konnte. Auch hatte sie irgendwie alles verlernt, was sie einmal konnte. Für Marie war das damals nicht einfach, für sie brach eine Welt zusammen. Aber es war die beste Entscheidung, die wir treffen konnten. Und es gefiel ihr dann so gut, dass sie total traurig war, als die Schule beendet war.

 

Hatten Sie schon vor der Erkrankung Ihres Kindes von Epilepsie gehört?

Nein, Epilepsie war mir bis dahin total unbekannt, ich hatte noch nie davon gehört. Bei meinem Sohn hatte ich dann schon die Erfahrung und wir konnten schneller reagieren. Er ist mittlerweile seit über 16 Jahren anfallsfrei. Aber auch hier sagten die Ärzte erst: „Nein, das ist keine Epilepsie.“ Doch ich blieb hartnäckig. Er bekam dann die gesicherte Diagnose und wurde gleich medikamentös behandelt.

 

Manchmal frage ich mich: Hätte ich das Wissen, das ich bei meinem Sohn gehabt habe, bei meiner Tochter gehabt, wäre sie dann heute auch anfallsfrei? Was wäre passiert, wenn ich schneller reagiert hätte und nicht über 1,5 Jahre Zeit verschwendet worden wäre? Aber man vertraut ja den Ärzten.

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Was ist die größte Einschränkung für Sie als Eltern durch die Erkrankung?

Gute Frage, gibt es darauf überhaupt eine passende Antwort? Denn für mich zählten nur meine Kinder, alles andere war nebensächlich. Ich würde es nicht als Einschränkung betrachten, sondern als Veränderung in meinem Leben. Die Krankheit meiner Tochter spielte eine große Rolle, was die Trennung von meinem Ex-Mann betraf. Und natürlich war es dann als Alleinerziehende etwas schwerer – vor allem, dass ich nicht ins Berufsleben zurück konnte, denn Krankenhausaufenthalte bestimmten mein bzw. unser Leben. Und dann hatte ich ja noch einen zwei Jahre jüngeren Sohn, der auch an Epilepsie erkrankte – also überhaupt keine Zeit darüber nachzudenken, ob ich eine Einschränkung in meinem Leben habe.

 

Klar Freundschaften meinerseits litten auch unter dieser Situation. Aber in solch schweren Zeiten erkennt man seine wahren Freunde. Also hat dies auch wieder etwas Positives.

 

Verbinden Sie mit der Erkrankung auch etwas Positives?

Gibt es überhaupt eine Verbindung zwischen Krankheit und Positivem??? Irgendwie tue ich mich sehr schwer damit, die Frage zu beantworten, aber … Ja, in gewisser Weise schon. Wäre ich da, wo ich heute bin? Wäre meine Tochter der Mensch, der sie heute ist? Wir haben durch die Krankheit viele nette Menschen kennengelernt – darunter auch viele gute und wichtige Freunde. Es hat uns als Mutter/Kind zusammengeschweißt und uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind – trotz allem immer noch positiv durch das Leben zu gehen!

 

Und wir haben unseren eigenen Humor damit umzugehen. Wir freuen uns über die kleinen Dinge und haben eine andere Sichtweise auf die Ereignisse im Leben, die wirklich wichtig sind. Wir sind in vielen Sachen entspannter und regen uns nicht über Kleinigkeiten auf. Wir schätzen das Leben jeden Tag aufs Neue und sind dankbar dafür, dass meine Tochter laufen, sprechen, sehen und, soweit möglich, selbstständig sein kann.

 

Ich hätte nie ein Kinderbuch über Epilepsie geschrieben. (Anmerkung der Redaktion: siehe Kasten am Ende)

 

Meine Tochter hat trotz Epilepsie eine Ausbildung im BBW Würzburg zum Bäcker erfolgreich abgeschlossen. Auch hierfür mussten wir kämpfen und haben uns durchgesetzt. Denn eigentlich ist der Beruf zum Bäcker nicht gerade geeignet für Menschen mit Epilepsie. Aber auch hier sollte man zwischen den Anfallsarten unterscheiden. Denn Epilepsie ist nicht gleich Epilepsie. Bei ihrer Gesellenprüfung erlitt sie einen Grand mal-Anfall mit Fahrt ins Krankenhaus. Sie konnte die Prüfung ein halbes Jahr später wiederholen – auch hier wieder ein Anfall, aber Gott sei Dank „nur“ ein fokaler. Nach einer Pause von einer guten Stunde hat sie trotz allem ihre Prüfung erfolgreich abgeschlossen. Denn wenn einer ehrgeizig ist, dann sie!

 

Was war Ihr negativstes Erlebnis in Bezug auf die Epilepsie Ihres Kindes?

Das negativste Erlebnis war mit Sicherheit die Tatsache, dass meine Ehe die Krankheiten der Kinder nicht überstanden hat – was eigentlich sehr traurig ist. Denn eigentlich sollte so etwas die Familie zusammenschweißen und nicht trennen. Aber jeder geht damit anders um. Und manche kommen damit leider überhaupt nicht klar und akzeptieren nicht, dass man keine gesunden Kinder hat.

 

Auch auf meiner Negativ-Liste:

Dass die Epilepsie nach vier Jahren ohne Medikamente wieder zurückkam. Die Ausgrenzungen, die meine Tochter erleben musste – egal in welchen Bereichen: Schule, Beruf, Freizeit, Familie. Hier fehlt es oft noch an Integration bzw. Inklusion.

Was ich ebenfalls als sehr schlecht empfinde ist, dass man sich immer wieder mit den Behörden auseinandersetzen und um alles kämpfen muss, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Und nicht nur mit den Behörden, auch teilweise mit den Ärzten.

 

Auch negativ zu betrachten ist, dass in unserer Gesellschaft immer noch gilt: Sobald du nicht perfekt bist, bist du nichts wert. Man sich immer rechtfertigen muss für Dinge, die man eigentlich nicht rechtfertigen müsste.

 

Ich könnte die Liste Negativ gefühlt ewig weiterführen. Und leider fällt mir das um einiges leichter als bei der Frage nach dem Positiven.

 

Auch wenn wir momentan wieder viele Tiefschläge, hinnehmen müssen, lassen wir uns nicht unterkriegen und kämpfen weiter: für unsere Rechte, für Verständnis, für Integration, für Gleichberechtigung.

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Was war Ihr positivstes Erlebnis in Bezug auf die Epilepsie Ihres Kindes?

Dass meine Tochter schon einmal das Glück hatte, vier Jahre ohne Medikamente zu sein. Sie ist eine Kämpferin, die sich nicht unterkriegen lässt und sich alles hart erarbeitet hat. Sie kann sehr stolz sein auf das, was sie bisher erreicht hat. Denn ihre Prognosen standen dafür nicht gut, dass sie einmal so weit kommen würde.

 

Und: Sie hat ihre Liebe zu Elefanten entdeckt. Sie geben ihr Kraft, Mut und Stärke. Wir besuchen regelmäßig einen Elefantenhof, wo ausgediente und gequälte Elefanten ihre letzten Jahre verbringen können. Wenn wir dort sind, ist meine Tochter der glücklichste Mensch der Welt. Sie kann in diesen Momenten alles um sich herum vergessen. Auch ihre Krankheit. Dort ist sie „nur“ ein Mädchen/eine junge Frau, das/die Elefanten liebt.

 

Sandra Stenger

zusammengefasst von Doris Wittig-Moßner

 

 

© Privat

Projekt Paulinchen

Sandra Stengers Kinder erkranken beide an Epilepsie. Ihr Sohn ist seit vielen Jahren anfallsfrei, die Tochter hat immer noch mit Anfällen zu kämpfen. Bei Gesprächen mit anderen betroffenen Eltern kam oft die Frage auf: „Wie erkläre ich meinem Kind die Erkrankung richtig?“

 

Aus diesem Grund hat sie begonnen, Kinderbücher über Epilepsie zu schreiben, in denen ein kleines Elefanten-Mädchen namens Paulinchen die Hauptrolle spielt:

 

„Paulinchen und ihre Abenteuer mit Epilepsie“

  1. Band: Der epileptische Anfall
  2. Band: Wie funktioniert ein EE
  3. Ein dritter Band ist schon in Arbeit …

Im Moment gibt es die Bücher allerdings nur über die Autorin selbst zu beziehen, da sie noch auf der Suche nach einem Verlag ist:

 

Bestellung: per E-Mail (siehe unten)

Lieferzeit: 2-4 Tage

Preis: € 9,95 pro Buch

zuzüglich Versand € 1,55

(ein Teil der Einnahmen geht als Spende an die Klinikclowns Lachtränen in Würzburg)

Für die Zeit „nach Corona“ plant Sandra Stenger auch „Paulinchen“-Lesungen in Epilepsie-Kliniken, in Schulen und Kindergärten. Wer Interesse hat, bitte einfach Kontakt aufnehmen!

Kontakt:

Facebook: epipaulinchen

Instagram: epi_paulinchen_2019
epi-paulinchen@web.de