Vagusnervstimulation
bei schwer behandelbarer juveniler myoklonischer Epilepsie
Einleitung
Die Vagusnervstimulation (VNS Therapy®) wird seit über 30 Jahren zur Epilepsie-Behandlung eingesetzt, wenn mit medikamentöser Therapie keine zufriedenstellende Anfallskontrolle erreicht werden kann und eine Epilepsie-chirurgische Behandlung mit operativer Entfernung der anfallsauslösenden Hirnregionen nicht möglich ist.
Hierbei führen elektrische Impulse, die von einem im Bereich der linken Brustseite eingesetzten Stimulator (Abb. 1) über eine Elektrode an den (in der Regel) linksseitigen Vagusnerv weitergeleitet werden, zu einer Depolarisation des Vagusnervs. Die hierdurch entstehenden physiologischen Aktionspotentiale führen zu Effekten in einem Netzwerk von Hirnregionen und letztlich zu anfallshemmenden Einflüssen an der Hirnrinde. Dies kann zu einer Reduktion der Anfallshäufigkeit beitragen.
In Studien wurden vor allem Patienten mit schwer behandelbaren fokalen Epilepsien oder Patienten mit epileptischen Enzephalopathien (z. B. Lennox-Gastaut-Syndrom) untersucht. Hierbei zeigte sich in beiden Gruppen bei 55 % der mit Vagusnervstimulation behandelten Patienten ein wirksamer Effekt auf die Anfallssituation, definiert als mindestens 50 % Anfallsreduktion. Bei den „idiopathischen“ generalisierten Epilepsien gibt es bisher nur wenige Erfahrungen mit der Vagusnervstimulation.
Die juvenile myoklonische Epilepsie (Janz-Syndrom) ist ein generalisiertes, idiopathisches (genetisch bedingtes) Epilepsie-Syndrom mit typischerweise in der Jugend beginnenden Zuckungen der Extremitäten, meist mit erhaltenem Bewusstsein (generalisiert myoklonischer Anfall). Hierbei können Gegenstände aus der Hand fallen oder sogar umher geschleudert werden, gelegentlich kann bei Myoklonien im Stehen ein Einknicken der Beine oder sogar ein Sturz auftreten. Regelhaft kommt es auch zu gelegentlichen generalisiert tonisch-klonischen Anfällen. Bei einigen Patienten traten bereits in den Jahren zuvor Absence-Anfälle mit kurzem regungslosem Verharren auf. Bei diesem Epilepsie-Syndrom können Anfälle durch Schlafentzug und vermehrten Alkoholkonsum provoziert werden.
Die Behandlungsprognose ist meistens gut, wenn zur Behandlung ungeeignete Wirkstoffe vermieden und die genannten Risikofaktoren beachtet werden. Der Einsatz eines Vagusnervstimulators ist daher bei der juvenilen myoklonischen Epilepsie in der Regel nicht erforderlich. Allerdings gibt es auch bei diesem Epilepsie-Syndrom immer wieder einzelne Fälle, die sich untypischerweise als schwer behandelbar erweisen. Der nachfolgende Fall beschreibt den Therapie-verlauf einer Patientin mit schwer behandelbarer juveniler myoklonischer Epilepsie, mit entscheidender Verbesserung der Anfallssituation durch Einsatz der Vagusnervstimulation.
Fallbeschreibung
Die 36-jährige Steuer-Fachangestellte wird seit Oktober 2010 ambulant mitbehandelt. Erstmals traten mit 13 Jahren Absence-Anfälle auf. Zweimal kam es bei Behandlungsversuchen mit Lamotrigin zu Entwicklung eines allergischen Exanthems; Lamotrigin wurde beendet. Die Behandlung mit Valproat führte zu einer ausgeprägten Gewichtszunahme; Valproat wurde ebenfalls wieder beendet.
2009 (mit 24 Jahren) unter Behandlung mit Topiramat traten erstmals drei generalisiert tonisch-klonische Anfälle bei Provokation durch Alkoholkonsum und Schlafentzug auf. Seither erfolgte eine Zusatzbehandlung mit Lacosamid, zunächst ohne weitere Anfälle.
Seit Juni 2010 entwickelten sich unter einer Medikation mit Topiramat und Lacosamid Stimmungsschwankungen, Interessenverlust und sozialer Rückzug, dabei spielte die Patientin ihre Symptome herunter (= dissimulierendes Verhalten). Anfang September 2010 trat eine wahnhafte Störung auf, gekennzeichnet durch paranoide Ideen, fehlende Sprachproduktion und Wesensänderung. Bei einer stationären Untersuchung ergab ein MRT/Schädel keine epileptogene Läsion, eine Liquor-Untersuchung blieb ebenfalls unauffällig, insbesondere ohne Hinweise auf eine entzündliche Erkrankung. Im EEG wurden generalisierte Polyspike-Wave-Komplexe bis zu 4 sec. Dauer dokumentiert.
Nachdem seit der Zusatzbehandlung mit Lacosamid Anfallsfreiheit bestand und Psychosen unter Topiramat bekannt sind, wurde Topiramat schrittweise reduzierend beendet. Eine Behandlung mit Risperidon zur Kontrolle der wahnhaften Störung wurde begonnen. Zu diesem Zeitpunkt bestand nur wenig Erfahrung mit Lacosamid bei generalisierter Epilepsie (der Wirkstoff war 2010 zur Behandlung dieses Epilepsie-Syndroms noch nicht zugelassen). Es wurde eine Kombination mit Valproat niedrig dosiert begonnen, worunter ein weiterer generalisiert tonisch-klonischer Anfall auftrat.
Anfang Februar 2011 erfolgte bei erneut durch Valproat verursachter Gewichtszunahme von 17 kg Körpergewicht eine Umstellung auf Levetiracetam mit Reduktion von Valproat, damit kam es nach Wochen wieder zu paranoiden Symptomen. Lacosamid wurde gesteigert, Valproat weiter reduziert, Levetiracetam schrittweise beendet. Bei einer stationären Untersuchung in einem führenden Epilepsie-Zentrum wurde Valproat komplett beendet, Lacosamid wieder reduziert und noch einmal Lamotrigin versucht, bei sehr langsamer Eindosierung ohne erneute allergische Reaktion, jedoch kam es nach einem Jahr mit Lacosamid und Lamotrigin zu einem weiteren unprovozierten generalisiert tonisch-klonischen Anfall.
Die Patientin entschied sich für Topiramat niedrig dosiert und versuchte ab Herbst 2012 die sogenannte „Modifizierte Atkins Diät“ (MAD, eine ketogene Diät) zur Anfallskontrolle.
Mit Topiramat, Lacosamid, Lamotrigin und der MAD blieb die Patientin ohne Diätfehler anfallsfrei; der Verzehr einer „Brezn“ (mit entsprechender Kohlenhydratzufuhr) führte aber mehrfach prompt innerhalb eines Tages zu einem generalisiert tonisch-klonischen Anfall. Die „Modifizierte Atkins Diät“ wurde daher im Februar 2013 wieder beendet und Lamotrigin erhöht. Anschließend kam es noch im gleichen Monat dreimal zu Stürzen im Rahmen von erstmals auffälligen generalisiert myoklonischen Anfällen morgens nach dem Aufstehen, einmal mit einer Kinnverletzung an einem Fensterbrett. Lamotrigin wurde wieder reduziert, da es generalisiert myoklonische Anfälle verursachen kann, Topiramat wurde dafür erhöht.
Die Patientin entschied sich im Februar 2013 für eine hormonelle Behandlung („Pille“ Maxim) im Langzyklus. Hiermit zunächst nur einzelne generalisiert myoklonische Anfälle; für einige Monate kein generalisiert tonisch-klonischer Anfall mehr, trotz gelegentlichem Alkoholkonsum und Schlafentzug. Im Januar 2014 ein erneuter generalisiert tonisch-klonischer Anfall im Büro.
Im März 2014 erfolgte eine „Pillenpause“. Nach Wiederbeginn der hormonellen Behandlung traten noch im März zwei weitere generalisiert tonisch-klonische Anfälle und regelmäßig generalisiert myoklonische Anfälle auf. Nach einer weiteren Topiramat-Dosissteigerung (in Kombination mit Lacosamid und Lamotrigin) bemerkte die Patientin Konzentrationsstörungen, sie konnte im Büro kaum noch ein Gespräch führen und knickte bei generalisiert myoklo-nischen Anfällen mehrfach im Stehen ein.
Erst nach Einsatz eines Vagusnervstimulators im Juni 2014 und unter Beibehaltung einer Vierfach-Kombination von Lacosamid, Valproat, Lamotrigin und Topiramat – alle Präparate in niedriger Dosierung – ergab sich eine entscheidende Verbesserung: Seit einem letzten generalisiert tonisch-klonischen Anfall nach Einnahmefehler im Oktober 2015 besteht mittlerweile sechs Jahre stabile Anfallsfreiheit für generalisiert tonisch-klonische Anfälle. Prämenstruell bemerkt die Patientin gelegentlich (nicht bei jedem Zyklus) einzelne Zuckungen.
Nach knapp 7½ Jahren Laufzeit ist in der Batterie des Stimulators bei regelmäßigen Kontrollen alle drei Monate noch ausreichende Ladung nachweisbar, ein Stimulator-Austausch ist noch nicht erforderlich.
Sie konnte vor einigen Jahren wieder eine eigene Wohnung beziehen, nachdem sie im Jahr 2010 aufgrund der Psychose erneut in die Wohnung der Eltern eingezogen war. Sie hat erfolgreich eine Weiterbildung zur Verwaltungs-Fachangestellten absolviert und den Kfz-Führerschein erworben. Ihr Körpergewicht hat sie wunschgemäß reduzieren können.
Fazit
Diese Fallbeschreibung dokumentiert einen stabil gut kontrollierten Verlauf einer ungewöhnlich schwer behandelbaren Form dieses üblicherweise gut behandelbaren Epilepsie-Syndroms.
Vier verschiedene Substanzen führten auch in höheren Dosierungen und verschiedenen Kombinationen nicht zu einer dauerhaft stabilen Anfallskontrolle. Ebenso war auch mit der „Modifizierten Atkins Diät“ und hormoneller Zusatzbehandlung (Pille im Langzyklus) dauerhafte Anfallsfreiheit für generalisiert tonisch-klonische Anfälle nicht zu erreichen.
Mit zusätzlichem Einsatz eines Vagusnervstimulators ist seit über sechs Jahren kein einziger behindernder Anfall mehr aufgetreten. Die noch vereinzelt auftretenden generalisiert myoklonischen Anfälle behindern die Patientin beispielsweise in ihrer Kfz-Fahrtauglichkeit weniger als eine „Niesattacke“ eines sonst gesunden Kfz-Fahrers.
Diese stabile Anfallskontrolle führte zu einer Normalisierung ihrer psychosozialen Lebensumstände, mit einer komplett eigenständigen Lebensführung und erfolgreicher beruflicher Tätigkeit.
Dies hat für die Patientin einen so hohen Stellenwert, dass sie sich bisher bei jeder Wiedervorstellung gegen vorgeschlagene Dosisreduktionen ihrer Vierfach-Kombination entschieden hat.
Da Valproat ein relativ erhöhtes Fehlbildungsrisiko aufweist (auch wenn die Patientin nur Valproat 300 mg/d einnimmt) und für Lacosamid noch keine belastbaren Schwangerschaftsdaten vorliegen, hat sich die Patientin gegen eigene Schwangerschaft entschieden. Sie möchte die Anfallskontrolle und damit die Sicherheit in ihrer täglichen Lebenssituation beibehalten.
Stephan Arnold
Kontakt:
Dr. Stephan Arnold
Leiter der Erwachsenen-Epileptologie Schön Klinik Vogtareuth
Krankenhausstraße 20
83569 Vogtareuth
www.schoen-klinik.de/vogtareuth
Neurozentrum Nymphenburg
Romanstraße 93
80639 München
www.neurozentrum-harlaching.de
Ausgewählte Literatur
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