JERWA in der Praxis

Dr. Andreas Weidmann, Chefarzt des Fachzentrums für Neurologie und der angeschlossenen Abteilung Medizin für junge Erwachsene© Schön Klinik Vogtareuth
© Schön Klinik Vogtareuth

Welche Patienten werden auf der Station behandelt, wie kommt man dorthin, welche Schwierigkeiten gibt es beim Übergang von der Kinder- zur Erwachsenenmedizin, welche Prioritäten werden bei der Behandlung gesetzt? Dr. Andreas Weidmann, Chefarzt des Fachzentrums für Neurologie und der angeschlossenen Abteilung Medizin für junge Erwachsene, hat uns einige Fragen zum neuen Angebot der Schön Klinik Vogtareuth beantwortet.

 

Wann ging die Station „JERWA – Medizin für Junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen und deren Folgen“ an den Start?

Auf unserer Normalstation, mit der Möglichkeit für Rooming-in, haben wir im März 2021 die ersten Patienten behandelt. Unsere moderne Intermediate Care-Station zur Behandlung überwachungspflichtiger und/oder beatmeter Patienten hat im Mai 2022 eröffnet. Die Versorgungsbedingungen sind dort in Bezug auf die Infrastruktur ideal, gerade auch was Therapieräume und technische Ausrüstung anbelangt.

 

Welche Erkrankungen bzw. Behinderungen werden hauptsächlich behandelt? Wie hoch ist der Anteil an Patienten mit epileptischen Anfällen?

Überwiegend sind unsere jungen Erwachsenen von Geburt an gehandicapt. Die Cerebralparese, also eine mehr oder weniger ausgeprägte Schädigung im Rahmen von Schwangerschaft und Geburt mit all ihren Früh- und Spätfolgen, sehen wir sehr oft, weil im Laufe des Lebens eben akute Komplikationen oder zunehmende Funktionsstörungen auftreten. Menschen mit genetisch bedingten Erkrankungen kommen aus den gleichen Gründen zu uns: Wenn ein Gesundheitsproblem auftritt, das die Lebensqualität beeinträchtigt.

 

Natürlich behandeln wir auch junge Erwachsene, die an Unfall- oder Krankheitsfolgen leiden und dadurch von Behinderung und komplexen Beeinträchtigungen betroffen sind. Der Anteil an Epilepsie-Patienten liegt bei ca. 80 %, wobei es nicht immer epileptische Krisen sind, die zur Aufnahme führen.

In diesem Gebäude ist die Station für junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen und Behinderung beheimatet
© Schön Klinik Vogtareuth

Wie sind die Zugangsvoraussetzungen? Ist die Einweisung durch einen niedergelassenen Facharzt nötig oder durch den Hausarzt möglich?

Nun, die Zielgruppe ist ja definiert: Junge Erwachsene im Alter von zirka 18 bis 28 Jahren mit Behinderung und einem akuten oder zunehmenden Gesundheitsproblem. Aber auch ein 16-Jähriger im zweiten Berufsschuljahr aus einer betreuten Wohngruppe oder ein inzwischen 32-jähriger schon lange von uns betreuter Patient werden aufgenommen und behandelt. Wichtig ist die Kontaktaufnahme mit uns, um individuell zu planen und zu entscheiden. Hier haben wir tatsächlich so etwas wie eine „offene Tür“. Nicht nur Haus- oder Fachärzte können uns zuweisen, auch MZEB, also spezialisierte ambulante Einrichtungen zur Behandlung von Erwachsenen mit Behinderung. Und, ganz wichtig: Wir bitten Patienten, Familien, Selbsthilfegruppen, Therapeuten und Einrichtungen oder Wohngruppen, uns jederzeit direkt zu kontaktieren.

 

Woher stammen Ihre Patienten bzw. wie groß ist Ihr „Einzugsgebiet“? Können Sie abschätzen, wie viele bereits in der Neuropädiatrie in Vogtareuth in Behandlung waren oder komplett „neu“ vorstellig werden?

Aufgrund der Größe sowie Bedeutung und natürlich auch der speziellen Schwerpunkte der Neuropädiatrie Vogtareuth, die ja seit über 30 Jahren Kinder und Jugendliche versorgt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Patienten schon einmal bei uns waren, tatsächlich recht groß.

 

Direkte Übernahmen aus der Neuropädiatrie im Zuge unseres Transitionskonzepts, also die begleitete und vorbereitete Weiterbehandlung im Fachbereich Junge Erwachsene nach zuvor vieljähriger Behandlung in der Neuropädiatrie, ist ebenfalls wichtig.

 

Die meisten unserer Patienten sind aber erstmal „neu“ und kommen dann immer wieder zu uns. Überwiegend leben unsere Patienten in Bayern, viele stammen aber auch aus dem ganzen Bundesgebiet, manche sogar aus dem europäischen Ausland – nicht zu vergessen: die Kriegsversehrten und andere Opfer von Krieg, Flucht und Vertreibung.

Großzügig und farbenfroh: Die Zimmer auf der Station JERWA.
© Schön Klinik Vogtareuth

Welche Prioritäten haben sich seit dem Start der Station herauskristallisiert? Was sind die Schwierigkeiten bei der Transition?

Als Priorität sehen wir zunächst eine teambasierte, interprofessionelle und individuelle Beurteilung der Situation und der Probleme des Patienten, die immer neu und speziell sind. Hierfür nehmen wir uns Zeit und versuchen, wirklich alle relevanten Koordinaten und Kontexte zu erfassen und einzuordnen. Lebensqualität, Wünsche und der Wille des Patienten und seiner Bezugspersonen werden entscheidend berücksichtigt.

 

Dann entwickeln wir einen Plan, ein medizinisches Konzept, was einerseits problembezogen, andererseits lösungsorientiert und zukunftsbezogen ist. Schwierigkeiten bekämen wir dann, wenn wir unflexibel und schematisch eine Behandlung „durchziehen“ würden. Aber das tun wir ja gerade nicht. Manchmal ist es nicht einfach, eine Lösung zu finden. Manchmal können wir den Patienten nur lindernd begleiten. Aber Priorität hat immer, es konzentriert und ganzheitlich zu versuchen.

 

Mit der Transition an sich gibt es keine Probleme, aber mit ihr gehen wir ein großes Versprechen ein, nämlich die gute Behandlung der Neuropädiatrie fortzusetzen. Die Erwartungen junger Erwachsener an ihr weiteres Leben unterscheiden sich aber von Kindern und Jugendlichen. Andere Themen spielen eine Rolle, Beruf, Familie, Partnerschaft, Sexualität. Den veränderten Erwartungen umfassend zu begegnen, ist eine besondere Herausforderung der Transition.

 

Was läuft besonders gut?

Sagen wir es so: Nichts läuft schlecht. Wir erleben gemeinsam mit dem Patienten Erfolge und Misserfolge in der Behandlung, wobei die Erfolge deutlich überwiegen – die typische Situation vielleicht, wenn man eine Behinderung hat und eine akute Gesundheitskrise. Insgesamt haben wir bisher bei hoher Patientenzufriedenheit sehr gute Behandlungsergebnisse. Unsere Herangehensweise wird sehr positiv angenommen. Wir schätzen uns als Team glücklich, unsere jungen Erwachsenen behandeln zu dürfen. Wir bekommen enorm viel zurück für unseren Einsatz.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft: Für die Station JERWA? Für Ihre Patienten?

Gute Frage! Ein Gesundheitswesen, welches die notwendige medizinische Behandlung behinderter Menschen nicht bürokratisch erschwert oder gar blockiert. Ein weiterwachsendes, immer bunteres JERWA-Team, was die Berufe und die professionelle Erfahrung anbelangt. Dass wir für unsere Patienten stets ein sicherer Hafen in Krisen sind.

 

Zu guter Letzt: Gibt es etwas, was Sie Patienten oder deren Eltern noch sagen möchten?

Mein persönliches Motto ist von Albert Camus: „Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft ist es, der Gegenwart alles zu geben“. Oder anders ausgedrückt: Wenn nicht jetzt, wann dann? Junge Erwachsene mit neurologischen Erkrankungen und deren Folgen haben begrenzte Perspektiven und brauchen die passende Versorgung zu ihrer eigenen Lebenszeit. Für mehr Lebensqualität in der Gegenwart und damit für eine Zukunftsperspektive.

 

Interview zusammengefasst

von Doris Wittig-Moßner