Plötzlich alles anders:

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„Die Zachenhuber ist vielleicht langsam geworden …“

Amelie Zachenhuber gehört zu den größten Schwimmtalenten Deutschlands. Als 12-Jährige ist sie schneller als Franziska van Almsick und Britta Steffen, mit 16 Jahren bereits 14-fache Deutsche Meisterin. Im Sommer 2019 holt sie zwei Bronzemedaillen beim European Youth Olympic Festival (EYOF).

 

Der Weg an die internationale Schwimmspitze und ihre Olympia-Träume erhalten im November 2020 einen jähen Dämpfer: Amelie hat ihren ersten Grand mal. Sie krampft, nässt ein, wird für einige Minuten bewusstlos, bevor der Anfall von selbst aufhört. Ein einmaliges Ereignis? Einen Monat später folgt der nächste Anfall – kürzer, aber jetzt steht die Diagnose fest: Epilepsie. Sie wird auf Medikamente eingestellt.

 

Das Leben des Nachwuchstalents wird von heute auf morgen durcheinandergewirbelt: Hat sie bis dahin in Erlangen in ihrer eigenen Wohnung gelebt und im Schwimmbad nebenan im dortigen   Elitezentrum trainiert, wohnt sie seit Anfang August 2022 wieder zuhause im oberbayerischen Eitting (Landkreis Erding) und leistet ihre Trainingseinheiten beim SC Prinz Eugen München.

 

Wir haben Amelie Zachenhuber, die im Mai 2022 ihren 18. Geburtstag feierte, nach ihren Erfahrungen mit Epilepsie – negativ wie positiv – und nach ihren Zukunftsplänen befragt:

 

Hast du schon vor deiner eigenen Erkrankung von Epilepsie gehört? Kennst du betroffene Sportler?

Ja, ich hatte schon mal ein kurzes Informationsvideo auf YouTube gesehen. Das war so ca. drei Wochen vor meinem ersten Anfall. Aber persönlich kenne ich keinen anderen Leistungssportler mit Epilepsie.

 

Wie hat sich die Diagnose auf dein Privatleben ausgewirkt?

Zuerst war meine Familie total schockiert – so wie ich auch –, weil wir uns alle nicht vorstellen konnten, woher das kommt. Auch das MRT brachte keinen Aufschluss. Man denkt, ist es eventuell Stress und Überlastung, vielleicht Schlafmangel? Meine Familie kümmerte sich rund um die Uhr um mich. Meine Eltern und Schwester wechselten sich ab, um mich zu „bewachen“ – ich wohnte ja schon in meiner eigenen kleinen Wohnung und sollte nicht alleine gelassen werden.

 

Von der Krankenkasse wurde mir ein „NightWatch“-Gerät finanziert, das nachts Alarm gibt, wenn sich die Herzfrequenz sehr stark nach oben oder unten verändert und sich sozusagen ein Anfall anbahnen würde. Das gab mir etwas Sicherheit in dieser unsicheren Phase.

 

Was war mit dem Schwimmen? Musstest du Wettkämpfe absagen? Beeinflussen die Medikamente deine Leistungsfähigkeit?

Ja, die Wettkämpfe wurden für mich einige Monate ganz abgesagt. Das Training hatte ich zwischen dem ersten und zweiten Anfall wieder voll aufgenommen. Dann der zweite Anfall im Kraftraum, bei dem ich sozusagen meinem Trainer vor die Füße gefallen bin. Danach kam die Angst zurück. Mit der Zeit wurde sie weniger, sodass ich nach ca. einem halben Jahr wieder das Trainingspensum von 70 % erreicht hatte.

 

Die Medikation wirkt sich sicherlich auf meine Leistungsfähigkeit aus. Hier spielen noch weitere Dinge eine entscheidende Rolle: Gewichtszunahme, eine Depression, die dann auch behandelt werden musste.

 

Anfangs habe ich zu meinen Trainingskollegen gesagt, dass sie auf mich aufpassen sollen – auch sie waren „durcheinander“, konnten diese Art von Krankheit nicht einordnen.

 

Ein Arzt aus dem Epilepsiezentrum Erlangen hat mir versichert, dass während des Trainings kein Anfall auftreten wird – und wenn wirklich, dann würden die Kollegen gleich „auf mich drauf schwimmen“ und merken, dass etwas nicht stimmt. Außerdem musste zur Überwachung nur für mich immer ein Rettungsschwimmer mit Rettungsschwimmabzeichen Silber am Beckenrand bereitstehen. Das übernahm dann meine Familie, die sich auch bei mir in der Wohnung um mich kümmerte.

© Jo Kleindl

Wie sah es mit der Schule aus? Gab es dort Probleme?

Da wegen Corona die Schulen im Dezember 2020 geschlossen wurden, passte das gerade gut vom Zeitpunkt her. Ich konnte dem Homeschooling folgen und meistens war mein Papa bei mir, weil für ihn Home-Office möglich war. Meine Mutter ist Krankenschwester auf der Intensivstation – sie wurde zu Coronazeiten mehr gebraucht als sonst und war arbeitstechnisch sowieso schon am Limit. An ihren wenigen freien Tagen löste sie meinen Papa in Erlangen ab und sorgte für mich.

 

Ich kämpfte in der Schule für einen guten Realschulabschluss. Als wieder Anwesenheitspflicht war, fuhren mich meine Eltern jeden Tag von Erlangen nach Nürnberg in die Bertolt-Brecht-Schule (Eliteschule des Sports) und holten mich nachmittags wieder ab (= 45 km einfach). Zu diesem Zeitpunkt war ich ja noch im Bundeskader (Nationalmannschaft).

 

Schulisch war mir wichtig, dass im Notendurchschnitt die „1“ vor dem Komma war. Ich schloss meine Mittlere Reife mit 1,9 ab. Daraufhin schrieb ich mich auf der Fachoberschule (FOS) in Erlangen ein. Mein Verein stellte mir eine Wohnung, die viel größer war als die vorherige und direkt in der Nähe des Schwimmbads lag. Eigentlich perfekt.

 

Allerdings wurden meine Medikamente in den Sommerferien wieder umgestellt, da ich zwar anfallsfrei, aber meine EEGs nicht sauber waren. Diese neue Medikation machte mich sehr unkonzentriert, was zur Folge hatte, dass ich die Probezeit auf der FOS nicht schaffte. Das machte mich sehr traurig, was immer schlimmer wurde – bis ich die Diagnose „Depressive Phase“ bekam, die mit Medikamenten behandelt werden musste, da ich selbst aus dieser Traurigkeit nicht mehr herausfand.

 

Mein Schwimmtrainer stand zwar noch zu mir, wendete sich aber von Tag zu Tag mehr ab – auch ich hatte am Training immer weniger Spaß und „schwänzte“ hin und wieder Einheiten, um zu schlafen und meiner Traurigkeit zu folgen.

 

Wer bzw. was hilft oder half dir, mit der neuen Situation umzugehen?

Meine Familie und Freunde zu Hause in Erding geben mir großen Halt – ebenso meine behandelnde Neurologin, zu der ich so ein gutes Verhältnis habe, dass ich sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen kann, wenn ich ein Problem habe.

 

Das NightWatch-Gerät war in meiner „heißen Phase“ eine große Hilfe.

 

Und der Weg in die Öffentlichkeit – jetzt weiß es jeder: In der Fachzeitschrift „Swim & More“ kam ein vierseitiger Bericht über mich und die Erkrankung Epilepsie. Nun wusste jeder gute Schwimmer in Deutschland Bescheid. Es kamen viele positive Rückmeldungen und Nachfragen.

 

In der Süddeutschen Zeitung und auch im Münchner Merkur, unserer Heimatzeitung, wurde ein großer Artikel veröffentlicht, dem ein mehrstündiges Interview vorausging (siehe Kasten am Ende).

 

Der Weg zurück von Erlangen nach Erding war unausweichlich notwendig. Mit Abschluss der Führerscheinprüfung konnte ich nach Hause. Hier fühle ich mich wieder sehr wohl und habe jede Unterstützung meiner Familie, die ich brauche.

 

Ich schrieb mich dann hier auf der FOS ein und begann im September 2022 erneut für meinen Berufswunsch zu kämpfen. Ich will Architektin werden und weiß genau: Dieses Mal werde ich es schaffen.

 

Was nervt dich gerade am meisten mit der Erkrankung?

Die regelmäßige Tabletteneinnahme regt mich auf und dass meine sportlichen Leistungen nicht mehr ansatzweise so sind wie zuvor. Ich ackere und arbeite wirklich härter als vorher und es kommt nix dabei rum.

 

Bei den Wettkämpfen werde ich bemitleidet bzw. es wird über mich gesprochen – natürlich hinter vorgehaltener Hand.

 

Meiner Meinung nach bremsen die Medikamente. Meine Ärzte sagen allerdings, das dürfte nicht der Fall sein.

 

Hast du im Zusammenhang mit deiner Erkrankung auch positive Dinge erfahren?

Ich lerne, das Leben und die Gesundheit viel mehr wertzuschätzen. Man merkt, wer ein wahrer Freund ist und wer vorher nur mit mir befreundet sein wollte, weil ich erfolgreich war.

© Mirko Seifert

Was war dein negativstes Erlebnis bisher in Bezug auf Epilepsie?

Bei Wettkämpfen wurde hinter meinem Rücken schlecht über mich geredet: „Die Zachenhuber ist vielleicht langsam geworden“, „die schafft es ja nicht mal mehr ins Finale“ etc. So etwas verletzte mich echt. Die wenigsten sind zu mir gekommen und haben mich direkt gefragt.

 

Außerdem wurde mein Vertrag bei der Deutschen Sporthilfe nicht verlängert und ich flog aus dem Bundeskader. Ich bin einfach die Zeiten nicht mehr geschwommen.

So ist das nun mal in Deutschland: keine Erfolge = keine Förderung.

 

Seit ich nun erneut zu Hause wohne, habe ich den Spaß am Training und an der Schule wiederentdeckt. Die Antidepressiva konnte ich absetzen.

 

Gab es auch Positives, was deine Erkrankung anbelangt?

Ich bekam ein Stipendium in dieser Zeit. Als wir bei der Bewerbung argumentierten, dass es wohl in Deutschland so sei, dass „jeder nochmal draufhaut, wenn es einem schlecht geht“, bekam ich ein vierjähriges Stipendium, welches zwar an den Leistungssport gekoppelt ist, aber nicht direkt an die Erfolge. Man kann es sogar eventuell noch um ein weiteres Jahr verlängern. Das gibt Planungssicherheit für die nächsten Jahre.

 

Gibt es etwas, was du anderen Betroffenen generell noch sagen möchtest?

  • Man soll sich nicht für seine Krankheit schämen, denn man kann ja nichts dafür.
  • Mehr Ruhepausen einplanen z. B. Mittagsschlaf.
  • Einen Wecker zur Tabletteneinnahme stellen, damit man diese nicht vergisst.
  • Medikamente nie nüchtern einnehmen.
  • Kein Alkohol oder Zigaretten.
  • Extremsportarten vorher mit dem Arzt besprechen.

Und wichtig: Das Leben genießen !!!

 

Interview zusammengefasst von
Doris Wittig-Moßner

Wer mehr über Amelie Zachenhuber und ihre Geschichte erfahren will:

 

Münchner Merkur:

Sturmfluten im Kopf: Das Leiden der Amelie Zachenhuber

www.merkur.de/sport/lokalsport/erding/sturmfluten-im-kopf-91478439.html