„Seltene Krankheiten sind großer Mist“
Annika ist neun Jahre alt und wohnt mit ihren Eltern in Mittelhessen. Seit vier Jahren hat sie einen kleinen Bruder. Ihr Papa erzählt, wie sich das Leben mit Dravet anfühlt, wo die Familie Unterstützung fand und warum der Weg zu Hilfsangeboten zu steinig ist.
Der Anfang war typisch für ein kleines Dravet-Kind: Mit sechs Monaten waren wir beim Babyschwimmen, als sie in der Umkleidekabine die Augen leicht verdrehte und irgendwie abwesend war, dann kamen noch Zuckungen an einem Arm dazu. Wir sind direkt ins nächste Krankenhaus gefahren, das nur ein paar Minuten von der Schwimmhalle entfernt war. Inzwischen hatte sie blaue Lippen, die Sauerstoffsättigung war offenbar schon richtig niedrig. Da man sich dort nicht mit Kindern auskannte, unterbrach ein Rettungssanitäter den Anfall mit einem Narkose-Medikament und wir wurden in die Kinderneurologie der Uniklinik Gießen verlegt.
Bis dahin war Annika altersgerecht entwickelt, es gab vorher keine Anzeichen, dass etwas nicht „normal“ sein könnte – ein typischer Verlauf bei Dravet-Kindern.
Danach verlangsamte sich die Entwicklung zunehmend, der Rückstand zu anderen Kindern wurde größer und größer.
Die häufigen Anfälle in der ersten Zeit überforderten uns immer wieder, sodass einige stationäre Aufenthalte in Gießen und anderen Kliniken in Deutschland zusammenkamen.
Die Anfälle sind vielfältig und verändern sich
Dravet-Kinder haben eine große Spannbreite an Anfallsarten und -auslösern, die sich noch dazu über die Zeit ändern können. Bei Annika geschah das mit jedem größeren Entwicklungsschritt. Dabei gibt es typische Auslöser wie Anstrengung, Aufregung oder Zahnung – insbesondere Fieber ist bei Säuglingen und Kleinkindern ein sicherer Trigger für einen Anfall.
Unsere Tochter hatte über zwei Jahre hinweg auch eine Muster-Sensibilität: Sie blieb mit den Augen an kontrastreichen Mustern „hängen“, was sicher zu einem Anfall führte, wenn man nicht ihre Augen kurz abdeckte und ihren Blick auf etwas anderes lenkte. Diese „Methode“ lernten sogar die Kinder in ihrer Kita, wenn Annika nicht mehr mitspielte und nur noch irgendwohin starrte. Das Problem wurde mit einer Brille mit einseitiger Occlusionsfolie behoben – bis die Mustersensibilität plötzlich verschwunden war.
Viele Dravet-Kinder haben Sturzanfälle und tragen daher einen „Epilepsie-Helm“. Auch wir haben einen zuhause, brauchten diesen aber nur ungefähr ein halbes Jahr lang, bis auch die Sturzanfälle wieder aufhörten.
Ansonsten zeigte Annika schon fast alle denkbaren Anfallsarten, die auch im Verlauf ineinander übergingen bzw. -gehen: Fokale und generalisierte Anfälle, Absencen und jede Menge klonisch-tonischer Grand mals, Serien und drei Status Epileptici.
Wir führen ein Epilepsie-Tagebuch, aus dem hervorgeht, dass wir Monate mit 60 Anfällen hatten, wobei wir dabei nur Grand mals oder „besondere“ Anfälle aufgezeichnet haben. Es gab aber auch schon mehrmonatige Anfallspausen.
Versuche mit Antiepileptika in den verschiedensten Kombinationen
Die antiepileptische Behandlung begann mit einem halben Jahr mit Levetiracetam, was aber die Situation nur vorübergehend verbesserte. Schon kurze Zeit später kam Kalium-Bromid hinzu. Levetiracetam wurde dann durch Valproat ersetzt.
Die Anfälle hatten wir in dieser Kombination zeitweise ganz gut im Griff, aber die zunehmenden Verhaltensauffälligkeiten zwangen zu weiteren Versuchen: CBD brachte keine positiven Effekte, Fenfluramin konnte die Anfallssituation weiter verbessern, ein Ausschleichen von Valproat verschlechterte die Situation aber extrem. Daher arbeiten wir aktuell mit Kalium-Bromid, Valproat und Fenfluramin zusammen. Die Dosierungen sind relativ niedrig und die Frequenz mit zurzeit einem Anfall pro Monat überschaubar.
Nach vielen hundert Anfällen stellt sich eine Routine ein. Wir waren seit Jahren nicht mehr im Krankenhaus, von regelmäßigen Untersuchungen im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) abgesehen.
Anfälle sind nicht mehr das Hauptproblem
In den ersten Jahren waren die Anfälle die Haupteinschränkung im Alltag. Auch wenn Annika in der Kita war (dort mit eigener Betreuungskraft), musste man ständig das Telefon im Blick behalten: Wir konnten jederzeit mit dem Anruf rechnen, dass das Kind vorzeitig abgeholt werden muss.
Aktuell besucht Annika eine Privatschule mit kleinen Klassen und einer Integrationshelferin.
Mit zunehmendem Alter tritt bei uns die Epilepsie in den Hintergrund, dafür machen uns immer wieder Verhaltensauffälligkeiten das Leben schwer. Unsere Neunjährige sieht aus wie eine Elfjährige, verhält sich aber je nach Tagesform wie eine Vier- bis Sechsjährige. Das fällt im Alltag auf wie der sprichwörtliche bunte Hund.
Die nächtliche Überwachung lässt uns gut schlafen
Kinder mit Dravet haben ein erhöhtes Risiko, einen SUDEP (= plötzlicher, unerwarteter Tod bei Epilepsie-Patienten; engl.: Sudden Unexpected Death in Epilepsy Patients) zu erleiden. Darum war uns eine Überwachung von Anfang an sehr wichtig.
Wir hatten als Eltern keine Zeit, uns einen richtigen Marktüberblick über die verschiedenen technischen Möglichkeiten zu verschaffen. Da musste eine schnelle Lösung gefunden werden: Im Krankenhaus werden alle Patienten standardmäßig mit Pulsoximetern überwacht. Daher lag es nahe, ein solches Gerät zu Hause einzusetzen. Unser Neuropädiater gab zu bedenken, dass die nächtliche Überwachung mit den möglichen Fehlalarmen uns Eltern den letzten Schlaf rauben könne. Mit meinem Argument, solange das Gerät keinen Alarm gäbe, könnten wir viel erholsamer schlafen, stellte er uns direkt eine Verordnung aus.
Wir haben nun seit acht Jahren das Pulsoximeter eines bekannten Herstellers zusammen mit den herstellereigenen (Marken-)Sensoren, die am großen Zeh befestigt werden. Jede Nacht – und früher auch beim Mittagsschlaf – ist das Gerät aktiv. Die Fehlalarme in der ganzen Zeit lassen sich an zwei Händen abzählen. Gute Sensoren halten mehrere Wochen lang, wir brauchen ungefähr zehn Stück pro Jahr – bei täglichem Einsatz.
Ein gutes Überwachungsgerät hat aber noch weitere Vorteile: Da der Ruhepuls im Schlaf von der Körpertemperatur abhängt, lässt sich ein aufkommendes Fieber in der Nacht bei Kindern sehr einfach erkennen. Deutete sich erhöhte Temperatur an, konnten wir im Schlaf ein Zäpfchen geben und so etliche Anfälle in der Nacht verhindern.
Annika kennt es nicht anders: Wie das Zähneputzen gehört das Anlegen des Sensors am großen Zeh zum Abendritual.
Wir haben Hilfe gesucht und gefunden
Familien mit Dravet-Kindern finden sich nicht zufällig; dafür ist die Krankheit zu selten. Aber es gab das damals sehr aktive kimberlys.de-Forum und natürlich den Dravet-Syndrom-Verein. Heute treffen sich Familien auch auf Facebook, da sind wir aber nicht aktiv.
Zusätzliche Unterstützung haben wir durch die Epilepsieberatung der Würzburger Juliusspital-Stiftung erhalten. In der Einzelberatung dort habe ich viel gelernt. Außerdem finde ich die Elterngruppe sehr bereichernd, wo sich Eltern unter der Leitung von Frau Fuchs austauschen können.
Der Elternverband vereint Eltern und Forschung
Wie schon oben erwähnt, bringt der Dravet-Syndrom Verein Eltern zusammen, unterstützt aber auch die Forschung an der seltenen Krankheit. Als Eltern eines betroffenen Kindes ist die Mitgliedschaft da fast schon zwingend, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Rückblickend können wir sagen, dass uns vieles leichter gefallen wäre, hätten wir vor Jahren gewusst, was wir heute wissen. Daher will der Verein Wissen und Erfahrungen weitergeben, damit es „neue“ Dravet-Kinder leichter haben.
Da die Kinder der Gründungsmitglieder inzwischen schon groß geworden sind, will sich der Verein jetzt vermehrt um die Transition kümmern: Leider ist der Übergang vom Neuropädiater zum Neurologen in Deutschland alles andere als leicht. Da müssen Eltern viel beachten, um das Beste für ihre Kinder zu erreichen.
Wie bei fast allen Vereinen wird die Hauptarbeit von erstaunlich wenigen aktiven Mitgliedern bewältigt. Ich wurde zunächst angesprochen, um bei Kleinigkeiten an der Homepage zu helfen, kümmerte mich dann um die technische Ausstattung des Vorstandes und habe schließlich die Position des Kassenwarts übernommen.
An dieser Krankheit gibt es nichts Positives
Ich bin kein Mensch, der allem etwas Gutes abgewinnen kann: „Toxic positivity“ liegt mir fern. Alle Krankheiten sind Mist. Seltene Krankheiten sind großer Mist. Natürlich hat die Erkrankung meiner Familie gezeigt, was sie zu leisten im Stande ist. Ich habe uns in Extremsituationen erlebt und viele liebe Menschen kennengelernt. Aber ehrlich gesagt, hätte ich auf viele Erfahrungen lieber verzichtet.
Beim Dravet-Syndrom an sich finde ich faszinierend, wie viele Eltern, Forscher und Pharmafirmen weltweit mehr oder weniger gemeinsam versuchen, die Krankheit zu verstehen und Wege zur Linderung zu beschreiten.
Meine Wünsche für die Zukunft
Ich wünsche mir für den Verein, dass sich immer genügend Aktive finden, um die vielen Aufgaben zu stemmen. Ich wünsche mir für Annika, dass sie irgendwann ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Ich wünsche mir für meine Familie, dass wir auch die noch kommenden Herausforderungen meistern.
Zu guter Letzt: Der Weg zu vielen Hilfsangeboten ist zu kompliziert
Es gibt in Deutschland viele verschiedene Hilfsangebote für Familien, aber es muss alles beantragt werden und die Zuständigkeiten sind sehr zergliedert. Oft lehnen Kranken- und Pflegekassen oder die verschiedenen Sozialkassen erst einmal einen Antrag ab oder weisen die Zuständigkeit weit von sich. Unsere besonderen Kinder brauchen also nicht nur liebevolle und geduldige Eltern, sondern auch noch einen streitbaren Bürokraten im Haus.
An die Politik gerichtet: Es ist ein Unding, wie viel Aufwand es macht, zu seinem Recht zu kommen. Für Nicht-Verwaltungsfachangestellte oder Nicht-Juristen sind viele Dinge kaum durchzusetzen, wenn man denn überhaupt weiß, was dem Kind oder der Familie rechtlich zusteht. Das muss vereinfacht werden! An die Eltern gerichtet: Sucht euch gleich am Anfang Hilfe in Vereinen bei sozialen Trägern oder Beratungsstellen. Erst wenn ihr euch mit all der nötigen externen Unterstützung versorgt habt, könnt ihr euch angemessen um eure Familie, eure Kinder und euch selbst kümmern!
Papa von Annika