Wenn der Schein trügt

Epilepsie als Fehldiagnose bei AADC-Mangel

Ein vermeintlich eindeutiger Fall von Epilepsie? Ein kleiner Patient zeigt wiederholt
typische Anzeichen einer tonischen Epilepsie. Doch manchmal trügen die scheinbar offensichtlichen Symptome.

 

Ein Säugling wird bei einem Kinderneurologen vorgestellt. Neben einer allgemeinen Muskelschwäche (Hypotonie), Reizbarkeit und verschiedenen autonomen Störungen, wie vermehrtem Speichelfluss, leidet der Junge immer wieder an auffälligen Bewegungsmustern, die auf eine tonische Epilepsie hinweisen. Aufgrund dessen veranlasst der Arzt eine Therapie mit Antiepileptika, auf die das Kind jedoch nicht anspricht. Erst nach Einweisung in eine Klinik wird nach erneuter Auswertung der auffälligen Bewegungsmuster sowie einer anschließenden Liquoruntersuchung klar: Der Junge leidet nicht an einer Epilepsie, sondern an einer schweren, angeborenen Störung des Neurotransmitterstoffwechsels.

Bildquellen: ©PTC Therapeutics

Neurotransmitterkrankungen:
diagnostische Herausforderung

Pädiatrische Neurotransmittererkrankungen sind eine noch relativ neue, aber wichtige Gruppe zumeist sehr seltener neurologischer Erkrankungen des Kindesalters. Dazu zählen zum Beispiel der Tyrosinhydroxylase (TH)-Mangel oder die cerebrale Folatdefizienz (CFD), ebenso wie der bei dem kleinen Jungen diagnostizierte Aromatische-L-Aminosäure-Decarboxylase (AADC)-Mangel. Für die behandelnden Ärzte stellen die entsprechenden Krankheitsbilder aufgrund der Seltenheit eine erhebliche diagnostische Herausforderung dar. 1,2

 

Es besteht das Risiko, dass es aufgrund bestimmter Bewegungsmuster mit unwillkürlichen, lang anhaltenden Muskelanspannungen (Dystonie) und okulogyrer Krisen – einer charakteristischen, unwillkürlich auftretenden, krampfhaften Aufwärtsbewegung der Augen (siehe Abbildung A und B) – bei der sehr seltenen Erkrankung AADC-Mangel zur Verwechselung mit einer Epilepsie kommen kann (etwa bei ca. 70 % aller Kinder mit AADC-Mangel war Epilepsie die Erstdiagnose). Aber auch initiale Diagnosen wie Zerebralparese oder mitochondriale Erkrankungen können aufgrund der Seltenheit der Krankheit erfolgen. Die tatsächliche Erkrankung bleibt dann unter Umständen lange unentdeckt – und damit gegebenenfalls unbehandelt. Dies kann für die betroffenen Patienten schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.

Achtung, untypischer Untersuchungsbefund

Hellhörig werden sollten alle Beteiligten, wenn sich bei pädiatrischen Patienten mit Verdacht auf eine Epilepsie im Rahmen der Diagnostik untypische Befunde ergeben. So sind z. B. sowohl das Elektroenzephalogramm (EEG) und die Magnetresonanztomographie (MRT) bei den meisten Kindern mit AADC-Mangel unauffällig. .3

 

Grundsätzlich sollte das EEG durch einen Kinderneurologen ausgewertet werden, da es im Säuglings- und Kleinkindalter auch bei vollkommen gesunden Kindern Besonderheiten aufweist.

 

Zudem empfiehlt die aktuelle Leitlinie zur Diagnostik von Epilepsien im Kindesalter, aufgrund der potenziell hohen therapeutischen Relevanz besonders bei Neugeborenen und Säuglingen mit Verdacht auf Epilepsie, eine neurometabolische Diagnostik zu erwägen. 4 Auf diese Weise lässt sich eine reine Epilepsie gegen verschiedene (neuro)metabolische Erkrankungen abgrenzen, die möglicherweise mit einer Epilepsie assoziiert sind. Die frühzeitige Diagnose dieser Erkrankungen ist für betroffene Kinder essenziell, da zum Teil für unterschiedliche Erkrankungen kausale Therapien zur Verfügung stehen. 5


Begleitsymptome können den Weg zur Diagnose weisen

Neben untypischen Untersuchungsbefunden fallen bei Kindern mit einer Neurotransmittererkrankung in der Regel auch Epilepsie-untypische Begleitsymptome auf, die den Weg zur richtigen Diagnose weisen können. Häufig führen Störungen des Neurotransmitterstoffwechsels beispielsweise schon ab dem Säuglingsalter zu einer starken psychomotorischen Retardierung, einer generalisierten Muskelhypotonie, okulogyren Krisen und autonomen Symptomen wie vermehrter Speichelbildung, instabile Körpertemperatur, Lidmuskelschwäche (Ptosis) oder übermäßigem Schwitzen. 2 Bei unklaren Symptomen ist deshalb eine weiterführende Diagnostik ratsam, unabhängig davon, ob tatsächlich eine begleitende Epilepsie vorliegt oder nicht.

 

Dr. Jens Grünert & Kristina Kempf


Kurzprofil AADC-Mangel

Der AADC-Mangel ist eine schwere, seltene, autosomal-rezessiv vererbte Erkrankung, die durch verschiedene Mutationen des DDC-Gens verursacht wird und zu einem kombinierten Mangel an Serotonin, Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin führt. Die oft unspezifisch erscheinenden Symptome manifestieren sich meist früh im Säuglingsalter.

 

Richtungsweisend sind eine muskuläre Hypotonie (= fehlende Muskelspannung), Bewegungsstörungen wie insbesondere okulogyre Krisen (= krampfhafte Aufwärtsbewegung der Augen), Dystonie (= unwillkürliche, lang anhaltende Muskelanspannungen) und Hypokinesie (= Bewegungsarmut)), Entwicklungsverzögerungen und autonome Symptome. Zu den häufigsten autonomen Symptomen zählen Ptosis (= Lidmuskelschwäche), Hyperhidrose (= übermäßiges Schwitzen) und eine chronische Verstopfung der Nase.

 

Epileptische Anfälle wurden zwar beschrieben, sind jedoch für das Krankheitsbild nicht typisch.

 

Eine erste Abklärung kann durch eine einfache Bestimmung von 3-OMD im Trockenblut erfolgen.

 

Die genaue globale Inzidenz und Prävalenz des AADC-Mangels sind unklar, sie scheinen niedriger zu sein als in der Literatur genannt. 6

 

Weitere Informationen: www.aadc-mangel.de


Quellen:

1 Gücüyener K et al. Ann Indian Acad Neurol. 2014;17(2):234-236

2 Lee WT et al. Epilepsy & Seizure 2010; 3(1):147-153

3 Wassenberg T et al. Orphanet J Rare Dis 2017; 12(1):12

4 Neubauer BA at al. S1 Leitlinie Diagnostische Prinzipien bei Epilepsien im Kindesalter. AWMF-Register Nr. 022/077

5 Dharmija R et al. J Child Neurol 2012; 27(5):663-671

6 Bergmann C et al. Neuropädiatrie in Klinik und Praxis 2021; 1:12-16