Ich war nie so richtig krank

Bigga Rodeck
Bigga Rodeck

Bigga Rodeck hat ein Diplom in Sozialpädagogik, ein Diplom in Informatik, eine Agentur für Unternehmenskommunikation in Ratingen – www.CompuSense.de - und hatte von ihrem 13. bis zu ihrem 27. Lebensjahr epileptische Anfälle, zeitweise mehrmals am Tag, große und kleine Anfälle, bunt gemischt.

Ihre Geschichte:

In den siebziger Jahren erlebt sie mit 13 Jahren den ersten Anfall. Erst nachdem ihre Schwester einen Anfall beobachtet, ein halbes Jahr später, kommt sie in ärztliche Behandlung. „Epilepsie findet statt, wenn keiner was sieht“.
Die erste Zeit ist schrecklich für das junge Mädchen. Sie hat Angst, einen Gehirntumor zu haben, weiß nicht, warum sie diese Anfälle hat. Die großen Anfälle bekommt sie nicht mit. Die kleinen Anfällen, die „gefühlte fünf Minuten“ dauern, erlebt sie dafür umso intensiver: „Ich gucke mir zu, wie ich auf das Waschbecken aufschlage“.

 

Ihr Kinderarzt in Hamburg arbeitet eng mit einem Neurologen zusammen. Mit Hilfe der Medikamente und einer strengen, ausgesprochen vernünftigen Lebensführung hat sie nur alle paar Monate einen Anfall. „Ich gehe neun Stunden, bevor ich aufstehen muss, ins Bett.“ Eine enorme Leistung für ein pubertierendes Mädchen. Erleichtert wird ihr das durch das Vorbild der Eltern. Sie legen sehr viel Wert auf Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft und einen geregelten Tagesablauf und leben auch nach diesen Grundsätzen. „Preußische Strenge“ ist Bigga Rodecks Ausdruck für diesen Lebensstil. Eine Grundhaltung, die sie für sich selber akzeptieren kann, die ihr sehr zugute kommt, sie aber auch dazu bringt, immer mehr von sich zu verlangen. Nie hat sie das Gefühl so richtig krank zu sein, jetzt nicht und auch nicht in der „anfallsreichen“ Zeit während des Studiums.

 

In der Schule ist die Epilepsie kein Thema, nur einige Lehrer und Freundinnen wissen darum. Sie macht ihr Abitur mit den Hauptfächern Physik und Kunst und absolviert anschließend ein freiwilliges soziales Jahr in der mobilen Altenpflege.
In dieser Zeit treten wieder mehr Anfälle auf. Wie sie heute weiß, war das eine Folge der psychischen Belastung und dem daraus resultierenden Schlafdefizit.
In dieser Situation hat die junge Frau zum ersten Mal Kontakt zu einem Epileptologen. Es wird eine schreckliche Erfahrung für Bigga Rodeck. Der Arzt will erst einmal die großen Anfälle in den Griff bekommen, die kleinen sind seiner Meinung nach ja nicht so schlimm. Auf die Frage seiner Patientin, warum die großen Anfälle wichtiger seien, wenn sie selber sich durch die kleinen Anfälle ja sehr viel mehr beeinträchtigt fühlt, bekommt sie zur Antwort: „Die großen Anfälle sind für Ihre Umgebung viel schlimmer, darum müssen wir die zuerst in den Griff bekommen.“ Eine Begründung, wie sie verletzender kaum sein kann, völlig die Bedürfnisse der Patientin missachtend.

 

Das Sozialpädagogik-Studium schafft sie durch die uneigennützige Unterstützung ihres Freundes. Obwohl sie jeden Tag mit Anfällen aufwacht, oft auch Grand Mal-Anfälle hat, die Nebenwirkungen von 5-6 Medikamenten aushalten muss, lebt sie ein normales Leben. Ihr Freund bringt sie morgens zur Fachhochschule, er unterstützt sie, wo er nur kann. Selbst wenn sie morgens ihre Tabletten im Anfall in der Küche verstreut und dann darauf besteht, sie eigenhändig wieder einzusammeln, obwohl sie gleich beim nächsten Anfall wieder auf der Erde landen, hält er das aus. Er sagt nicht „Leg Dich doch hin, ich mach das schon.“, sondern unterstützt sie dabei, trotz ihrer Krankheit ein normales Leben zu führen, sich Anforderungen und Herausforderungen nicht nur zu stellen, sondern sie förmlich zu suchen. Zwei Studiengänge, zwei sehr gute Abschlüsse, Paragliding, drei Monate mit dem Rucksack durch China …… Auch wenn sie jetzt sagt, dass sie eigentlich oft zuviel von sich verlangt hat, ist es ihr wichtig, ihre Träume zu leben. Sie schiebt nichts, was ihr wichtig ist, auf die lange Bank, sondern nutzt Gelegenheiten, probiert aus, was geht, lebt ihr eigenes Leben so intensiv, als könnte es nicht mehr lange dauern. „Ich hatte die Vorstellung, wenn ich 30 Jahre werden kann, dann habe ich lange gelebt.“

 

CompuSense

Mittlerweile ist Bigga Rodeck 45 Jahre alt und Inhaberin einer etablierten Agentur für Unternehmenskommunikation. Trotz ihrer eigenen Probleme hat sie sich immer sozial engagiert. Sei es, dass sie während des Studiums einen schwerkranken Menschen unterstützt (und dafür nebenher noch jobbt) oder in ihrem Team einen kranken Mitarbeiter in schwierigen Zeiten begleitet.. Sie engagiert sich bei der Non-Profit Organisation „YouCan Trust“. Sie ist Mentorin einer jungen Fotografin, die erst seit kurzem epileptische Anfälle hat, und hat - ganz nebenbei - den epilepsie bundes-elternverband im vergangenen Jahr durch eine Adventskalender-Aktion im Internet mit einer Spende in Höhe von 720 € unterstützt. „Ich habe noch eine Rechnung mit Gott offen. Mein Freund hat mir damals sehr geholfen, dass möchte ich jetzt an andere Menschen weitergeben.“ Sie lacht viel und gerne, hat einen trockenen Humor und findet, dass Schlaf eigentlich eine Zeitverschwendung ist. Umso bewundernswerter ist die Konsequenz, mit der sie ihre neun Stunden Schlaf sicherstellt.

 

Seit ihrem 27. Lebensjahr ist sie anfallsfrei. Nach einer Phase mit recht vielen Medikamenten gleichzeitig, Nebenwirkungen ohne Ende und immer noch Anfällen, setzt sie mit Unterstützung eines Arztes, der auch gleichzeitig Homöopath ist, alle Medikamente ab und beginnt mit einer homöopathischen Behandlung. Nach dem Motto „Das Schlimmste, was mir passieren kann, sind Anfälle. Und die kommen ja sowieso.“ Nach einem Jahr hat sie nur noch einen Anfall im Monat. „Mehr ist mit den Kügelchen nicht zu erreichen“, sagt ihr Arzt und schickt sie wieder zu einem Neurologen. Ein halbes Jahr später ist sie anfallsfrei – bis heute!

 

Auf die Frage nach dem negativen Erlebnis in Bezug auf ihre Epilepsie, antwortet sie: „Das war jedes Mal, wenn ich nach meinem Anfall meine Freundinnen trösten musste. Damit war ich dann total überfordert!“

 

Das positive Erlebnis ist nicht so leicht zu finden. In ihrem Studium hat sie viel Unterstützung erfahren, wo sie sie nicht erwartet hatte, viele kleine Erinnerungen tauchen auf, aber eine ganz spezielle Erfahrung hat sie doch sehr berührt. Und zwar als sie nach einem Grand Mal-Anfall in den Armen ihres Cousins aufwacht, der sie die ganze Zeit gehalten hat, nicht auf Distanz zu ihr, ihrem Anfall ging, sondern ihr die Nähe und den Halt gab, den sie in diesem Moment brauchte.

Susanne Fey, Wuppertal