Medizinverbrechen an Bremer Kindern und Jugendlichen in der Zeit des Nationalsozialismus

Gerda Engelbracht

Mabuse-Verlag (Juni 2014)

178 Seiten

ISBN: 978-3863211820

€ 16,90

Man ist kaum vorbereitet auf das, was in diesem Buch zu lesen ist. Zu ungeheuerlich und unvorstellbar sind die Berichte, Dokumente und Bilder, die das aufzeigen, was damals passiert ist. Das Buch ergänzt eine (Wander-)Ausstellung, die diese Medizinverbrechen am Beispiel von Bremer Kindern und Jugendlichen aufzeigt.

Es waren zwei Ziele, die die Nationalsozialisten in diesem Bereich verfolgten: Zum einen war dies die Verhütung der „Lebensunwerten“, zum anderen die Vernichtung der „Lebensunwerten“.

Schon in der Weimarer Republik setzten sich die Vertreter des Sozialdarwinismus so weit durch, dass es keine gesundheitswissenschaftliche Disziplin gab, die nicht vom Gedanken einer „Fortpflanzungshygiene“ durchdrungen gewesen wäre. So gab es bereits 1923 einen ersten deutschen Lehrstuhl für Rassenhygiene an der Universität München. 10 Jahre später, 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses mit der Möglichkeit der zwangsweisen Sterilisation beschlossen. Als Erbkranke wurden definiert: Menschen mit angeborenem Schwachsinn, Fallsucht, Veitstanz, Blindheit, Taubheit und schweren körper-lichen Missbildungen. Im Namen des deutschen Volkes wurden zwischen 1934 und Kriegsende 400.000 Kinder und Jugendliche, Frauen und Männer zwangsweise sterilisiert. Etwa 5.000 davon, hauptsächlich weibliche Personen, überlebten diesen Eingriff nicht. Körper und Seelen dieser Betroffenen wurden zerstört, weil sie nicht dem nationalsozialistischen Menschenideal entsprachen.

Ab dem 1. Sept. 1939 gerieten alle seelisch und körperlich kranken, sozial unangepassten und geistig behinderten Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Lebensgefahr. In einer Tötungsermächtigung hatte Adolf Hitler erlaubt, ärztliche Befugnisse bei bestimmten Medizinern so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken der Gnadentod gewährt werden konnte. Das bewußt auf den Kriegsbeginn datierte Schreiben bildete die Grundlage sowohl für die Kindereuthanasie als auch für die sogenannte Aktion T 4, der vor allem Erwachsene zum Opfer fielen. Dies geschah in Folge von systematisch pflegerischer und medizinischer Vernachlässigung, Hunger und Medikamentenüberdosierungen. Es ist davon auszugehen, dass in sechs Kriegsjahren deutlich mehr als 10.000 körperlich und geistig behinderte Kinder ermordet wurden. Diese waren untergebracht in „Kinderfachabteilungen“.

Es waren die Mediziner der Gesundheitsämter, die die Überweisungen in diese Kinderfachabteilungen vornahmen. Nicht selten machte man den Eltern Hoffnung auf eine erfolgreiche Therapie ihrer Kinder. Auch waren Hebammen angehalten, Säuglinge mit schweren Leiden zu melden. Sie sollten für ihre „Mühewaltung eine Entschädigung von 2 RM“ erhalten.

Am erschütterndsten zu lesen ist das Kapitel „Lebensspuren und Erinnerungen“. Hier sind neben den Namen, Geburts- und Sterbedaten sowie den Krankenberichten Fotos der Kinder zu sehen. Oft lachen diese, wirken unbeschwert auf dem Schoß eines der „Pflichtjahrmädels“ sitzend oder sogar im Kreis der Familie. Am Ende schreibt ein alter Mann, dass er erst vor wenigen Jahren nach dem Tod der Eltern herausfand, dass er noch ältere Geschwister gehabt hatte. Nach Recherchen wusste er auch um die Umstände ihres Todes. Seitdem engagiert er sichund tritt öffentlich als Zeitzeuge auf. „Heute sind sie Teil meiner Familie“ sagt er. Für Hans, Erika und Margret hat er Stolpersteine verlegen lassen, die er regelmäßig besucht und pflegt. An ihren Geburts- und Todestagen legt er Blumen ab.

Fazit: Empfehlenswert für alle, die nicht vergessen, sondern sich auf diese wichtige Thema einlassen möchten.

Christa L.A. Bellanova